Milchbart (German Edition)
gehofft, sein Anrufbeantworter würde eine Nachricht von Fanni abspielen, fand sich jedoch enttäuscht. Umgehend versuchte er, sie auf dem Handy zu erreichen, wo er mit der Ansage »Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar … is not available … ist nicht erreichbar …« abgespeist wurde.
Demnach hatte Fanni ihr Mobiltelefon also abgestellt, obwohl es anders vereinbart gewesen war. Einerseits sah ihr das ähnlich. Andererseits war es nicht Fannis Art, einmal getroffene Absprachen einfach außer Kraft zu setzen. Sie konnte sich allerdings entschlossen haben, ein wenig zu mogeln, das Wörtchen »tagsüber« durch »täglich ein Stündchen« zu ersetzen.
Sprudel kannte Fannis Unwillen darüber, zu jedem beliebigen Zeitpunkt dem Klingeln eines Handys ausgeliefert zu sein.
»Dieses Ständig-erreichbar-sein-Müssen erinnert mich ein bisschen zu sehr an George Orwells Überwachungsstaat«, hatte sie einmal zu ihm gesagt. »Big Brother is watching you! Auf diesen Handyterror heutzutage gemünzt, könnte man fast sagen: Big brother is calling you!«
Sprudel hatte damals lachend geantwortet, dass ja niemand gezwungen sei, störende Anrufe entgegenzunehmen.
»Störend«, hatte Fanni gerufen. »Genau das ist der Punkt. Wenn der Anruf stört, dann stört er. Egal, ob ich ihn entgegennehme oder nicht.«
»Verstehe«, hatte Sprudel erwidert. Er verstand sie wirklich. Mit dem eingeschalteten Handy in der Hosentasche fühlte sich Fanni wie an ein Seil geknüpft, an dem jeder nach Lust und Laune ziehen durfte. Sie sah sich als Spielball ihrer Umwelt.
Vor ein paar Jahren hatte sie ihm einmal erzählt, dass ihr Mann sie als Soziopathin bezeichnet hatte. Das, dachte Sprudel, war falsch, gemein und ungerecht. Dennoch musste er zugeben, dass Sozialkompetenz nicht unbedingt eine von Fannis Stärken war.
Sosehr Sprudel sie auch liebte, so deutlich war er sich ihrer Schwächen immer bewusst gewesen, die sie ihm jedoch – wie konnte so etwas bloß sein? – nur umso liebenswerter machten.
»Sie wird sich melden«, sagte er jetzt laut und verordnete sich Geduld, was darauf hinauslief, dass er unruhig vor dem Telefon auf und ab marschierte. Während er vergeblich auf Fannis Anruf wartete, kam ihm Seibold wieder in den Sinn. Was, wenn der Mann in Gefahr schwebte? Was, wenn ihm Schwester Rosa ein Mittel verabreicht hatte, das ihn einschlafen und nie wieder aufwachen ließ? Was, wenn es ein weiteres Mordopfer gab, weil der ehemalige Kriminalkommissar Sprudel weder in dem Moment, als die Tat verübt wurde, noch irgendwann später das Geringste unternommen hatte?
Mit einem Aufstöhnen griff Sprudel zum Hörer, rief in der Parkklinik an und verlangte, mit Seibold verbunden zu werden.
Erwartungsgemäß erhielt er die Auskunft, Herr Seibold sei nicht im Hause. Da gab er vor, Seibold dringend Unterlagen zukommen lassen zu müssen, und bat um dessen Privatadresse. Erstaunlicherweise zögerte der Pförtner nicht, sie ihm zu geben.
Die Anschrift führte Sprudel in einen Stadtteil von Deggendorf, der sich Mietraching nannte. Der Block, in dem Seibold wohnte, befand sich gegenüber einer Gastwirtschaft.
Sprudel musste eine Weile suchen, bis er unter den vielen gleichartigen jenes Metallplättchen ausfindig gemacht hatte, in das »Seibold/Bogner« eingestanzt war. Endlich glitt sein Zeigefinger darüber hinweg und legte sich auf den Klingelknopf, der daneben angebracht war.
Angespannt wartete er auf das Summen des Türöffners, das jedoch ausblieb. Nach einigen Sekunden drückte er erneut auf den Knopf, klingelte wieder und wieder.
Irgendwann musste er einsehen, dass niemand öffnen würde, weswegen es wohl an der Zeit war, die Polizei über seine Beobachtung im Café zu informieren.
Er wollte sich gerade abwenden, um zu seinem Wagen zurückzukehren, da ging die Eingangstür auf, und ein älterer Mann mit Dackel kam heraus.
Sprudel nutzte seine Chance und schlüpfte hinein.
Eilends lief er die Treppen zum dritten Stockwerk hinauf, wo sich Seibolds Wohnung befinden musste, wenn die Anordnung der Namensschilder mit der Lage der Wohnungen übereinstimmte.
Er fand die gesuchten Namen an der dritten Tür, klingelte, klopfte und horchte. Nach einiger Zeit glaubte er ein Scharren und Rascheln zu hören.
Da rief er laut: »Herr Seibold! Sind Sie in Ordnung? Geht es Ihnen gut? Mein Name ist Sprudel, ich wollte nach Ihnen sehen. Würden Sie mir bitte aufmachen.«
Weil er nicht wirklich damit gerechnet hatte, fuhr Sprudel zusammen, als
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