Milchbart (German Edition)
Füßen auf den Grund trete, brauche ich mich ja nur aufzurichten, um mit dem Kopf aus dem Wasser zu kommen.
Tatsächlich fühlte sie schlammigen Boden, als sie die Füße sinken ließ. Aber sooft sie auch versuchte, darauf Halt zu finden, gab er nach.
Ihre Bewegungen wurden langsamer. Die inzwischen schier zentnerschwere Kleidung drückte sie unnachgiebig unter Wasser. Die Kälte begann sie zu lähmen. Ihre Sinne schwanden.
9
»Wie haben Sie es bloß angestellt, in den Teich zu fallen? In diesem Eistümpel hätten Sie doch erfrieren können – ertrinken!« Offenbar konnte sich Schwester Rosa zwischen den beiden Todesarten nicht recht entscheiden.
Fanni lag, ringsum von Wärmeflaschen umgeben, in ihrem Zimmer im Bett. Schwester Rosas Kopf schwebte über ihrem Gesicht.
Und sie sieht doch aus wie Gollum! Schau dir bloß das verschlagene Grinsen an!
Gollum ist eine hässliche Kreatur, widersprach Fanni ihrer Gedankenstimme, Schwester Rosa könnte als hübsch durchgehen, wenn sie nicht so hervorquellende Augäpfel und einen etwas kleineren Mund hätte.
Eben!
Fanni gab auf und ließ zu, dass die bleierne Müdigkeit, die wie eine Decke über ihr lag, sie wieder übermannte.
Doch erneut wurde sie von Schwester Rosas Stimme aus ihrem Dämmerzustand gerissen.
»Ich mag gar nicht dran denken, wie es hätte kommen können, wenn Alexander Sie nicht herausgefischt hätte«, brabbelte sie. »Und jetzt weicht er nicht mehr von Ihrer Seite, als müsste er Sie bewachen.«
Fanni öffnete die Augen und sah Alexander in der Louis-quinze-Imitation sitzen. Er grinste und winkte ihr zu.
Das Eiswasser muss dir ins Hirn gedrungen sein, du delirierst!
Schwester Rosa neigte sich ganz nah an ihr Ohr. »Er lässt sich einfach nicht wegschicken, obwohl ich ihm schon zigmal erklärt habe, dass Sie Ihr Bad im Teich gut überstanden haben und dass Ihnen jetzt nichts mehr passieren kann. Der Schreck und der Kraftakt, Sie herauszuziehen, sind für den armen Kerl wohl zu viel gewesen. Ich werde Professor Hornschuh bitten müssen, ihn zu sedieren, damit wir ihn auf sein Zimmer bringen können.«
Fanni ließ den Kopf von einer Seite zur anderen rollen und krächzte einen Laut, der sich wie »Nein« anhörte.
»Sie wollen, dass Milchbart hierbleibt?«, fragte Schwester Rosa überrascht.
Fanni klappte zweimal die Augen auf und zu.
Um Himmels willen, tu doch nicht so, als wärst du querschnittsgelähmt! Außerdem bist du schon so gut wie wieder aufgewärmt, und damit ist alles paletti!
Fanni war zu schwach, um sich gegen die Gedankenstimme aufzulehnen. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Eisblock verschluckt, der sämtliche Körperfunktionen zum Erliegen brachte. Sie konnte vor Müdigkeit kaum denken, geschweige denn sich bewegen.
Unvermittelt schlief sie ein.
Als sie wieder erwachte – Fanni hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war –, herrschte draußen eine schwammige Dunkelheit, die das Licht der Parklaternen kaum zu durchdringen vermochte. Ihr Zimmer wurde jedoch von der kleinen Lampe auf dem Schreibtisch schwach erhellt.
Schwester Rosa war verschwunden.
Hier drin ist es so still wie in einem ausgeplünderten Pharaonengrab!
Fannis Blick glitt langsam durch den Raum, streifte Nachttisch und Kleiderschrank, Tür und Fenster – und blieb an der Louis-quinze-Imitation hängen. Darin saß Alexander. Er hatte den Korbstuhl davorgestellt und die Beine draufgelegt.
Fanni versuchte, ihn schärfer zu fokussieren.
Er ist eingeschlafen!
Ja, er schläft, bestätigte sie und machte ebenfalls die Augen wieder zu.
Als sie das nächste Mal erwachte, glaubte sie, Sprudel neben Alexander sitzen zu sehen. Es schien ihr so, als würden sich die beiden die Hände schütteln.
Kein Zweifel, kam sie dem Kommentar ihrer Gedankenstimme zuvor, ich deliriere, träume, phantasiere. Erneut schloss sie die Augen.
Was Sprudel wohl heute so gemacht hat?, ging es ihr durch den Kopf, bevor sie abermals wegdämmerte.
Am Vormittag – ungefähr zum selben Zeitpunkt, zu dem Fanni von Hans Rot in der Parkklinik abgeholt worden war – hatte sich Sprudel in seinen Wagen gesetzt und auf den Weg nach Bogen gemacht. Er wollte versuchen, an eine andere Kollegin Marita Bogners, Frau Aicha, heranzukommen, und hoffte, dieses Mal mehr Glück zu haben als mit Frau Becker.
Wenig später stellte er den Wagen vor der psychotherapeutischen Praxis Dr. Böhm ab und ging auf das fünfstöckige Terrassenhaus zu, dessen Hausnummer der Adresse
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