Milchbart (German Edition)
scharf, dass Fanni zusammenzuckte.
Schwester Rosa wich einen Schritt zurück und klammerte sich an der Fensterbank fest.
»Warum?«, fragte Sprudel drohend. »Ich werde Sie anzeigen.«
Schwester Rosa war blass geworden und hob abwehrend die Hände. »Bitte, nein, tun Sie das nicht. Es würde mich den Arbeitsplatz kosten.«
»Warum?«, wiederholte Sprudel erbarmungslos.
Fanni hatte sich auf die Bettkante gesetzt und beobachtete die Szene verblüfft.
Gollum sieht aus, als hätte man ihm die Daumenschrauben angesetzt, ihn aufs Rad gebunden …
Schsch!
Schwester Rosa hatte sich in den Sessel sinken lassen. »Ich musste es tun, um ihn vor sich selbst zu schützen. Bertie hatte sich in eine Art Weltuntergangsstimmung hineinmanövriert. Er haderte sogar mit dem Professor, den er immer zutiefst verehrt hat, weil der ihm eine Gesprächstherapie bei Frau Aicha verordnet hatte. Er will Bertie damit ja nur helfen, Maritas Tod zu verarbeiten. Aber die Therapiesitzung mit Frau Aicha schien alles nur noch schlimmer gemacht zu haben. Bertie war auf einmal von einer kalten Wut erfüllt. ›Der Aicha dreh ich den Hals um‹, hat er gesagt.« Der Blick, mit dem die Schwester Sprudel bedachte, war beinahe flehend. »Da musste ich doch etwas tun, um ihn ruhigzustellen. Zum Glück hatte ich ein Fläschchen Valocordin in der Tasche.«
»Sie hätten ihn nicht allein lassen dürfen«, sagte Sprudel.
»Ich weiß«, gab Schwester Rosa zu. »Aber mein Dienst in der Klinik hat angefangen. Das war ja auch der Grund dafür, dass ich Bertie sediert habe. Ich musste irgendwie dafür sorgen, dass er in einen anderen Zustand kommt. Inzwischen geht es ihm besser, glauben Sie mir. Ich habe heute früh schon nach ihm gesehen.«
Sprudel nickte. »Ich auch. Er scheint so weit in Ordnung zu sein.«
»Sehen Sie«, erwiderte Schwester Rosa eifrig, »sich treiben lassen können hat ihm geholfen. Was ich getan habe, war richtig.«
»Es stand Ihnen nicht zu«, sagte Sprudel, aber Fanni merkte ihm an, dass er nicht länger darauf herumreiten wollte.
Schwester Rosa verzog sich eilfertig.
Sprudel schloss die Tür hinter ihr und ging dann auf Fanni zu. Er stand ihr ein paar Augenblicke lang schweigend gegenüber, bis sie sagte: »Wir sollten irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können – in jeder Hinsicht ungestört.«
Den Gedanken, der daraufhin in Sprudels Hirn aufblitzte, konnte sie förmlich sehen. Doch er zögerte mit der Antwort. Erst nach einer ausgedehnten Pause sagte er, wobei er nachgerade verlegen wirkte: »Würdest du mit mir nach Birkenweiler fahren?«
Fanni nickte ihr Einverständnis und griff nach ihrer Jacke. Auf Sprudels Gesicht erschien ein begeistertes Lächeln.
Hand in Hand liefen sie die Treppe hinunter, wie Kinder, die sich heimlich aus dem Staub machen.
Unten angekommen, hielt Fanni plötzlich inne. »Sekunde. Gib mir einen kleinen Moment Zeit. Ich muss noch etwas aus dem Kellergeschoss holen, bevor wir gehen.«
»Da komme ich mit«, bestimmte Sprudel und packte ihre Hand fester.
Sie durchquerten das Foyer und hielten auf die – verglichen mit den breiten Treppenfluchten ins Obergeschoss – recht schmale Stiege nach unten zu. In die erste Stufe war ein Messingtäfelchen mit der Aufschrift »Nur für Personal« eingelassen. Fanni ignorierte es und begann gemeinsam mit Sprudel hinunterzusteigen. Sie kamen nicht weit.
»Frau Rot!« Das war die Stimme des Professors. »Sie haben sich im Weg geirrt. Die Treppe führt zum Heizraum und zum Wäschekeller.«
Fanni drehte sich um.
Das Lächeln des Professors wirkte aufgesetzt, als er sagte: »Würden Sie bitte zurückkommen.«
Hornschuh wartete, bis Fanni und Sprudel wieder oben angekommen waren, nickte ihnen zu und entfernte sich. Am Eingang zum Speiseraum blieb er jedoch stehen und tat, als würde er den Terminplan studieren.
Fanni und Sprudel machten sich davon.
Sobald sie Sprudels Haus in Birkenweiler betreten hatte (inzwischen schien es ja offiziell Leni zu gehören), registrierte Fanni, wie Sprudels Anspannung wuchs. Begierig folgte sein Blick jeder ihrer Bewegungen, als erwarte er …
… den Durchbruch! Die Rückkehr der Erinnerung!
Fanni schaute sich um. Was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Die Einrichtung war eine Mischung aus modernen und sehr alten Möbeln; auf den Fußbodendielen lagen schwere Teppiche; sämtliche Polster auf den Sitzgelegenheiten leuchteten in frischen und dennoch warmen Farben.
»Wie schön«, sagte Fanni aus
Weitere Kostenlose Bücher