Milchbart (German Edition)
kniff die Augen zu und legte die Hände darüber, um sich zum x-ten Mal den Raum, in dem Frau Bogner ermordet worden war, in allen Einzelheiten vorzustellen: den Schrank, den Schreibtisch, den Wandschirm …
Der Wandschirm!
Fanni ließ die Hände sinken und riss die Augen auf. »Hornschuh hat sich hinter dem Wandschirm versteckt.«
Das Keuchen, das darauf folgte, kam von Sprudel.
Sie schaute ihn fast flehend an. »So könnte es doch gewesen sein: Kurz vor neun huschte Hornschuh in Frau Bogners Zimmer, kam aber nicht dazu, sein mörderisches Vorhaben in die Tat umzusetzen, weil Alexander schon im Anmarsch war. Also sagt Hornschuh zu Marita Bogner, er wolle bei der Therapiesitzung mithören, und verschwindet hinter dem Wandschirm. Nach der Sitzung kommt er hervor, begeht die Tat und verbirgt sich wieder, wobei ihm der Wäscheschacht die Möglichkeit bietet, sich der Tatwaffe zu entledigen. Dann muss er nur noch abwarten, bis er auf den Plan treten kann, ohne aufzufallen.«
Erleichtert sah sie Sprudel nicken.
»So war es definitiv nicht.« Hornschuhs Stimme ließ Fanni zusammenfahren. Ihre Hände suchten ganz automatisch nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Die Linke bekam den Autoschlüssel zu fassen, den Hans Rot neben sich auf das Sofa gelegt hatte, und umklammerte ihn.
Hornschuh war hinter der Säule hervorgetreten, die es ihm ermöglicht hatte, ungesehen zu lauschen.
»So war es nicht, Frau Rot«, wiederholte er. »Auch wenn Sie es sich noch so sehr wünschen. Tillman und ich haben uns bis kurz nach zehn in meinem Büro aufgehalten, und Seibold hat bei der Polizei bestätigt, dass ich es im fraglichen Zeitraum nicht verlassen habe. Er saß ja die ganze Zeit im Vorzimmer. Es tut mir leid für Sie, Frau Rot«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »aber aufgrund der Spurenlage sind Sie als Täterin überführt. Man hat bereits Haftbefehl gegen Sie erlassen. Zwei Polizeibeamte sind unterwegs, um Sie abzuholen.« Er hinderte Sprudel daran, aufzuspringen. »Daran können weder Sie noch ich etwas ändern.«
Hans Rots Autoschlüssel schnitt in Fannis Handfläche. Sie steckte ihn in die Hosentasche und straffte sich. »Dürfte ich wohl noch zur Toilette gehen, bevor …« Ihre Stimme versandete.
»Aber natürlich dürfen Sie das«, antwortete der Professor zuvorkommend. »Wir warten hier auf Sie.«
Fanni erhob sich und ging gemessenen Schrittes auf die Besuchertoilette im Foyer zu. Nachdem sich die äußere Tür hinter ihr geschlossen hatte, rannte sie zur Stirnseite des Waschraumes, wo sich ein kleines, nicht vergittertes Fenster befand, das auf den Parkplatz zeigte. Sie öffnete es hastig und stieg hinaus. Als sie am Wagenschlüssel den Türentriegler betätigte, begannen ein Stück weiter rechts Lichter zu blinken. Sie hetzte darauf zu.
Was hast du denn eigentlich vor? Willst du dir mit der Polizei ein Rennen liefern? Ausgerechnet du? Als Autofahrerin bist du in etwa so versiert wie ein Maulesel beim Springturnier!
Ich muss zu Seibold, dachte Fanni. Er ist der Einzige, der meine Theorie untermauern kann. Falls er erst in sein Zimmer zurückkam, nachdem Hornschuh schon weg war, könnte er unwissentlich eine falsche Aussage gemacht haben. Und wenn er noch mal darüber nachdenkt, kommt ihm vielleicht zu Bewusstsein, dass es im Büro nebenan verdächtig still war und dass Hornschuh es durchaus verlassen haben konnte.
Fanni steuerte den Wagen aus dem Parkplatz und bog in die Straße nach Deggendorf ein.
Glücklicherweise hatte Sprudel die Adresse Seibolds erwähnt, als er am Vormittag von seinen gestrigen Erlebnissen erzählt hatte. Er hatte Fanni den Wohnblock sogar beschrieben.
Man wird dich zur Fahndung ausrufen!
Nicht nötig, dachte Fanni. Sobald ich mit Seibold gesprochen habe, werde ich mich stellen. So oder so. Denn falls ich Hornschuh nicht nachweisen kann, dass er zur fraglichen Zeit in Maritas Zimmer gewesen sein könnte, gibt es keine Rettung mehr.
Fanni parkte Hans Rots Wagen am Straßenrand, ohne das Verbotsschild dort zu registrieren, und lief auf das Haus zu, von dem Sprudel gesprochen hatte. Irgendjemand hatte die Eingangstür nicht richtig geschlossen, sodass Fanni sie aufdrücken konnte. Sie ignorierte den Fahrstuhl und stieg die Treppen hinauf.
Seibold öffnete, kaum dass Fanni den Finger vom Klingelknopf genommen hatte. »Frau Rot?« Er wirkte misstrauisch.
Fanni lächelte so liebenswürdig sie es vermochte. »Wie geht es Ihnen, Herr Seibold? Herr Sprudel hat mir
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