Milchfieber
Sie adoptierten ihn. Der Hof, den er einmal erben sollte, war einer der prächtigsten der ganzen Gegend, voll mit Möbeln aus mehreren Jahrhunderten, Schränken voll handgewebtem Leinen, wertvollem Geschirr und kostbarem Tafelsilber. Die Ställe waren großzügig und hell, die Ochsen fett und die Milchkühe immer an der Spitze des Zuchtfortschritts. Die Ländereien lagen in der Nähe der Elbe, hatten Böden, deren Qualität kaum zu übertreffen war: junge, fruchtbare Marschböden, die hohe Erträge garantierten.
Franz Böhm hieß nach der Adoption Gerlach und nutzte seine Adoptiveltern aus, wo er nur konnte. Antiquitätenhändler räumten nach und nach das halbe Haus leer, wobei Franz Gerlach so geschickt vorging, dass die Alten nichts davon mitbekamen.
Bewunderung über diese Dreistigkeit erhielt er von seinen Freunden, die von dem heimlich eingenommenen Geld profitierten. Franz war bekannt für seine großspurig angekündigten Saalrunden, die er regelmäßig spendierte, wenn er in den Kneipen des Dorfes auftauchte.
Im Herbst, an dessen Ende die Alten starben, lieferte er seine Meisterleistung ab. Zumindest sahen das einige seiner Kneipenbekanntschaften so: Er begann abends mit großem Aufwand den Trecker mit dem Pflug herzurichten, berichtete lautstark seinen Adoptiveltern davon und fuhr nach dem Abendessen los, das Feld, das direkt hinter dem Hof fast bis zum Deich reichte, zu pflügen. Er wusste, dass die beiden Alten abends gerne noch einen Blick auf die Felder warfen, bevor sie zu Bett gingen. Als er bemerkte, dass das Licht auf dem Hof erloschen und seine Adoptiveltern zu Bett gegangen waren, stellte er den Trecker am entgegen gesetzten Ende des Feldes ab, ließ das Licht brennen und ging zu Fuß in die nächste Kneipe, wo er unter großem Hallo erzählte, dass die beiden Alten so begeistert von seinem Fleiß wären. Immer wenn sie nachts aufwachen und aus dem Fenster sehen würden, steche ihnen das Licht des Treckers ins Auge und sie meinten, er würde die ganze Nacht fleißig mit dem Pflug seine Runden drehen.
Als Peter Gerlach den Hof von seinem Vater übernahm, waren von den ursprünglichen 75 Hektar noch 30 übrig geblieben. Die wertvollen Möbel waren verkauft, die Schränke leer und die Tiere im Stall mager und klapprig. Nach sechs Jahren eigener Wirtschaft hatte Peter das von seinem Vater begonnene Werk vollendet. Er hatte rund um den Hof so viel wertvolles Land verkaufen müssen, dass die Kühe im Sommer zu den Melkzeiten nicht mehr in den Stall gehen konnten. Sein weniges Land war abgeschnitten vom Hofplatz. Gerlach musste einen Melkschuppen bauen und auf der Moorwiese melken. Nach zwei weiteren Jahren gab er auf. Er begann sich an alte Familienbande zu erinnern und zog einen Handel mit Lumpen auf, die er nach Polen und Weißrussland verhökerte. Schnell sah er, dass die geschäftlichen Aktivitäten nicht nur in eine Richtung gehen mussten. Bei der Rückfahrt nahm er immer das mit, was am besten in der Gegend an den Mann zu bringen war: Schwarzarbeiter und Frauen.
Viele Dorfbewohner, die als Angestellte jeden Arbeitskampf mitmachten und bereit waren, für gerechte Einkommen und vernünftige Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen oder in den Streik zu treten, nahmen gerne die Angebote an Arbeitskräften von Peter Gerlach in Anspruch, wenn ein Dachgeschoss ausgebaut werden sollte oder ein Bad neu gekachelt. Peter verlieh die Schwarzarbeiter, die meist aus Polen oder Weißrussland kamen für 10 Euro in der Stunde, ausbezahlt bekamen die Männer, die in einer Scheune auf seinem Hof hausten und vorher ihre Pässe bei ihm abliefern mussten, nach Abzug der Miete für die verwanzten Betten, drei. Dreimal im Jahr fuhr Gerlach nach Polen und organisierte die Einreise seiner Arbeiter. Meist nahm er seinen kleinen Bus und wenn er von seiner Reise an die polnische Ostgrenze zurückkam, begleiteten ihn mehrere Frauen, für die er schon lange vorher dankbare Abnehmer gefunden hatte. Nicht alle erfüllten die hochgesteckten Erwartungen einsamer Auftraggeber und konnten bleiben. Für die ließ Gerlach dann gerne seine Kontakte in andere Kreise spielen. Für einige Kunden waren auch andere Arrangements möglich.
Horst Winkler ahnte, was auf ihn zukommen würde, als er sah, dass Peter Gerlach sein Auto vor dem Stall abstellte. Lissy schien ihm jetzt die einzige Rettung, aber seine Frau war nirgends zu sehen. Sie schien sich mit Gerlach gut zu verstehen und vielleicht könnte sie noch eine kleine
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