Milchgeld: Kluftingers erster Fall
Er stellte sich kurz vor und fragte noch einmal, was er sowieso schon wusste: »Wann kommen Sie denn heute an?«
Theresa, die den klangvollen Nachnamen Ferro trug, nannte ihm dieselbe Ankunftszeit, die ihm auch Julia und später seine Sekretärin schon gegeben hatte. Sie solle sich auf ihrer Fahrt noch einmal alle Details genau überlegen, nachdenken, ob ihr Vater vielleicht irgendwelche Feinde gehabt haben könnte. Oder ob ihr irgendetwas aus der Vergangenheit einfalle, was wichtig für die Ermittlungen sein könnte. »Jedes Detail kann uns möglicherweise weiterhelfen«, zitierte er ein Klischee, das er noch während seiner Ausbildung gelernt hatte, das sich aber schon mehr als einmal als richtig erwiesen hatte. Schließlich wünschte er noch eine gute Fahrt und legte den Hörer auf.
Er begann wieder mit seinem Stuhl zu wippen.
Gerichtsmedizin, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.
»Irgendwo muss ich doch diese Nummer …«, murmelte Kluftinger vor sich hin und öffnete eine Schreibtischschublade. Er musste die angebrochene Keks-Schachtel zur Seite schieben, um den Blick auf den Haufen Papier freizubekommen, den er seine »Adressensammlung« nannte. Dutzende Visitenkarten lagen zwischen handgeschriebenen Zetteln und Computerausdrucken mit wichtigen Nummern. Kluftinger war selbst erstaunt, wie schnell er die richtige Notiz fand. Ich muss das unbedingt mal ordnen, dachte er sich – wie jedes Mal – als er die Schublade wieder schloss.
Das Telefongespräch mit dem Gerichtsmedizinischen Institut in München dauerte kaum länger als seine Suche nach der Telefonnummer. Der Bericht werde wohl heute Abend noch vorliegen, hörte Kluftinger, die Leiche könne dann freigegeben werden für die Beerdigung, die bereits vermutete Todesursache werde sich wohl bestätigen.
Kluftinger brachte dieses Gespräch nicht mehr als die Erkenntnis, dass die Kollegen ziemlich fix gearbeitet hatten; er vermutete, dass von anderer Stelle, möglicherweise mit niederbayerischem Akzent, Druck gemacht worden war.
Kluftinger wippte.
Irgendwas wollte er doch noch … genau, Wachters Wohnung. Das hatte er sich ja schon gestern vorgenommen. Weil Sandy gerade nicht da war, kritzelte er »Bin Tatort« auf einen Zettel, legte ihn ihr auf den Schreibtisch und verließ eilig die Inspektion. Diesmal nahm er seinen eigenen Wagen.
***
Er hatte ein komisches Gefühl, als er das polizeiliche Siegel aufbrach und die Tür zu Wachters Wohnung öffnete. Kluftinger sah sich, bevor er das Haus betrat, nach allen Seiten um, fast als würde er etwas Verbotenes tun. Er war ein wenig erleichtert, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er atmete vorsichtig durch die Nase ein. Es roch neutral, stellte er beruhigt fest. So neutral jedenfalls, wie eine fremde Wohnung eben riechen konnte. Er hatte sich oft gefragt, wie seine Wohnung wohl roch. Man selbst konnte das ja nicht wahrnehmen, aber immer wenn man in ein fremdes Haus kam – und sein Beruf brachte es mit sich, dass das ziemlich häufig passierte – nahm man einen ganz speziellen, einzigartigen Geruch wahr. Und nur in den seltensten Fällen war der von vornherein angenehm. Man brauchte immer eine Weile, um sich daran zu gewöhnen.
Hier fiel es ihm komischerweise leicht.
Wachters Haus roch neutral, nein sogar freundlich, irgendwie frisch. Jedenfalls ganz und gar nicht nach Leiche.
Das Nichtvorhandensein dieses »Dufts« machte Kluftinger ruhig und selbstsicher. Langsam ging er durch den Hausgang auf die Wohnzimmertür zu, ließ seinen Blick schweifen. Sein Urteil, das er sich am Mordabend gebildet hatte, bestätigte sich: Er fand Wachters Wohnung sehr geschmackvoll. Hell und einladend, die Wände in erdigen Tönen gestrichen. Kluftinger dachte, dass er das bei sich Zuhause auch so machen könnte. Früher hatte man eben automatisch zur Raufasertapete gegriffen und sein Vater hätte ihn wahrscheinlich sofort in Handschellen gelegt, wenn er ihn dabei erwischt hätte, wie er die Wohnung in Erdtönen streicht. Aber inzwischen ist man da ja viel toleranter, dachte er. Er nahm sich vor, bald mit seiner Frau über eine mögliche Farbveränderung zu sprechen – sobald sie wieder mit ihm sprechen würde.
Kluftinger schüttelte die Gedanken ab. Er wollte sich jetzt ganz auf den Tatort konzentrieren. Das war eine seiner Stärken: dass er die Orte »lesen« konnte, wie einmal ein Vorgesetzter nach einer aufgeklärten Diebstahlserie zu ihm gesagt hatte. Er hoffte, dass das auch heute wieder
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