Milchgeld: Kluftingers erster Fall
Leichenschmaus schmeckte ihr damals nicht besonders und es lag nicht nur daran, dass sie ihn selbst bezahlen musste.
Doch diesmal war es ganz anders. Wachter war tot und er war zu jung gewesen. Und dann war er auch noch ermordet worden. Elfriede Sieber schüttelte es bei dem Gedanken, als sie sich ihr dunkelblaues Kleid für die Beerdigung zurecht zupfte. Sie würde wieder ihren schwarzen Mantel tragen müssen, denn sie besaß kein schwarzes Kostüm. Obwohl sie auf so viele Beerdigungen ging, hatte sie sich das nie leisten wollen. Dafür hatte sie ja ihren schwarzen Mantel. Und der Himmel zeigte sich heute wolkenverhangen, so dass es sicher nicht verkehrt war, mit einem Mantel ausgerüstet zu sein.
Sie ging die mit dickem Teppich ausgelegten Treppen hinab ins Wohnzimmer, wo ihre Schwester wie immer auf der Couch saß und den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt hatte.
»Jetzt mach doch mal leiser, ich versteh ja mein eigenes Wort nicht mehr«, rief sie, doch ihre Schwester reagierte nicht. »Leiser«, rief sie ihr direkt ins Ohr und jetzt hatte sie verstanden.
Auch wenn sie schwerhörig war, schlecht gehen konnte und auch sonst manchmal eine große Last für Elfriede Sieber war, war sie froh, eine Familienangehörige bei sich zu haben.
Nachdem ihr Mann vor vier Jahren gestorben war, war sie ganz allein. Kinder hatten sie keine. Irgendwann hatte sie sich dann entschlossen, ihre drei Jahre ältere Schwester aus dem Altenheim zu sich nach Hause zu nehmen. Besser als allein zu sein, dachte sie sich.
»Ich geh jetzt gleich zur Beerdigung«, rief sie ihrer Schwester ins Ohr.
»Was ist?« Diese zwei Worte waren ihre Standardantwort auf so ziemlich jede Frage.
»Beerdigung. Friedhof. Hörst du, Cilly? Fried-hof!«
Ihre Schwester nickte und machte sich daran, aufzustehen.
»Nein. Ich geh zum Friedhof. Du bleibst da«, rief sie und drückte Cilly wieder in die geblümte, beige-rot-grüne Couch, deren gepolsterte Lehnen mit geschwungenen Leisten aus Eiche umrandet waren.
»Was ist?«
Elfriede schüttelte nur den Kopf, drehte den Fernseher, in dem gerade irgendeine Talkshow lief, auf volle Lautstärke und drückte ihrer Schwester die Fernbedienung in die Hand.
Solange der Fernseher lief, das wusste sie, würde ihre Schwester genau dort bleiben wo sie war. Einmal, knapp zwei Jahre musste es inzwischen her sein, hatte sie sie gerade noch an der Bushaltestelle erwischt. Sie hatte sich mit ihrem Gehwägelchen selbst dorthin bewegt – die längste Strecke die sie seit Jahren zurückgelegt hatte. Als sie Cilly wieder in der Wohnung hatte, bemerkte sie auch den Grund für ihren Ausflug: Die Bildröhre war schwarz gewesen und gab keinen Mucks mehr von sich. Von Cillys Ersparnissen hatten sie dann ein neues, zuverlässiges Gerät gekauft. Schließlich war gar nicht auszudenken, wo Cilly bei ihrer Busfahrt hätte landen können … Ein Blick auf die Kuckucksuhr, ein Mitbringsel von ihrer Hochzeitsreise in den Schwarzwald, zeigte ihr, dass es Zeit wurde. Sie ging nach draußen und sah auf den wolkenverhangenen Himmel. Zur Sicherheit nahm sich Elfriede Sieber noch einen Schirm mit, verschloss die Haustür zweimal und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
***
Zur selben Zeit trat auch Kluftinger nach draußen. Er nahm keinen Schirm mit. Zum einen, weil er nicht glaubte, dass es heute noch regnen würde, zum anderen – und das war der Hauptgrund – weil er keinen gefunden hatte. Er ging nur äußerst ungern auf Beerdigungen, aber in diesem Fall war es etwas anderes. Vielleicht würde er ja das eine oder andere nützliche Detail aufschnappen, dachte er, als er seinen Wagen aufschloss und sein Blick auf die Trommel fiel, die noch immer im Kofferraum seines Passats lag.
»Kruzines’n«, fluchte er.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er das Aufräumen wohl auf nach der Beerdigung würde verschieben müssen. Er breitete aber eine Decke über die Trommel, denn irgendwie war es ihm peinlich, damit bei der Beisetzung vorzufahren. Das einzig Gute an seinem Instrument war, dachte er, als er den Rückwärtsgang einlegte, dass sie bei Beerdigungen, wenn überhaupt, nur ein paar Bläser brauchten. Nach der Trommel hatte zu diesem Anlass noch nie jemand verlangt.
***
Elfriede Sieber öffnete das schwere Kirchenportal. Sie tauchte ihre Hand in den Weihwasserbehälter, bekreuzigte sich kurz und ließ den Blick schweifen. Sie betrat die Kirche immer von hinten, das ließ ihr genug Zeit, beim Nach-Vorne-Gehen zu
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