Milchgeld: Kluftingers erster Fall
würden sich mit einem kurzen Interview zufrieden geben, ebenso die vom Radio, das wusste Kluftinger. Aber der Lokalchef der Zeitung rief schon wenige Minuten nachdem der Pressebericht verschickt worden war, bei ihm an. Nein, wir wissen noch nichts Genaues über die Todesursache. Nein, wir haben noch keinen Verdächtigen, ließ sich Kluftinger jede Information mühsam aus der Nase ziehen.
Auch wenn er eigentlich immer ein gutes Verhältnis mit den Herrschaften von der Presse gepflegt hatte: In diesem Fall wollte, musste er Ruhe haben. Deswegen nur diese spärlichen Informationen. Die hatten eh schon ausgereicht, um heute ganz groß im Allgäu-Teil der Zeitung zu erscheinen. Im Radio lief es noch am Vorabend. Mit einem kurzen, unkommentierten Interview mit dem Kommissar. Wie er es vermutet hatte.
Wenigstens die überregionalen Medien hatten sich noch nicht dafür interessiert. Er hoffte, dass das noch möglichst lange so bleiben würde.
Kluftinger konzentrierte sich jetzt wieder ganz auf die Frau, die ihm gegenüber saß. Und das war nicht leicht, denn obwohl er ihr noch keine Frage gestellt hatte, redete sie ohne Unterlass. Wie gern sie doch bei Philip Wachter gearbeitet habe, wie sehr sie seine korrekte Art geschätzt habe, wie wenig sie im Haus habe machen müssen, weil er doch ein so ordentlicher Mensch gewesen sei. Kluftinger hatte Mühe, sein Lachen zu unterdrücken, als sie ihm dann noch ihr Alibi für die Tatnacht lieferte: Sie sei wie jeden Montagmorgen in der Frühmesse gewesen und dann habe sie für ihre kranke Schwester eingekauft, mit der sie zusammenlebe und die fast taub sei und deswegen nicht selbst … »Wieso sind Sie denn nicht zum Haus von Herrn Wachter gefahren?«, unterbrach sie Kluftinger ungeduldig.
»Na, ich bin immer nur in der zweiten Wochenhälfte bei ihm gewesen. Er hat das so gewollt, wissen Sie«, sagte sie und fügte dann misstrauisch hinzu: »Aber Sie glauben doch nicht, dass ich etwa …«
»Nein, das glaube ich nicht«, seufzte der Kommissar.
Die weitere Vernehmung brachte keine neuen Hinweise für die Ermittlungen. Allerdings wollte Kluftinger unbedingt noch mit ihr zum Tatort fahren. Wenn jemand feststellen würde, dass etwas fehlte, dann doch wohl sie. Doch seine Hoffnung wurde enttäuscht. Elfriede Sieber fand alles so vor, wie immer. Behauptete sie jedenfalls. Kluftinger fuhr sie missmutig nach Hause.
***
Als sich Elfriede Sieber am nächsten Tag für die Beerdigung ihres ermordeten Arbeitgebers fertig machte, wusste sie noch nicht, dass sie an diesem Tag dem Fall eine entscheidende Wendung geben sollte. Die Vorbereitung auf den Trauerakt lief ganz normal ab. Frau Sieber hatte darin eine gewisse Routine entwickelt im Laufe der Jahre. Die Beerdigungen häuften sich.
Viele ihrer Bekannten und auch einige Freundinnen waren bereits »gegangen«, wie sie sich ehrfürchtig ausdrückte. während die meisten anderen Frauen in ihrem Alter Totenfeiern mieden, ging sie sehr gerne auf Beerdigungen. Sie wusste nicht warum, hatte auch nie darüber nachgedacht. Möglicherweise würde ein Psychologe sagen, dass sie sich im Angesicht des Todes anderer Menschen besonders lebendig fühlte. Aber Elfriede Sieber wusste nichts von Psychologen und sie hatte auch nicht vor, das zu ändern.
Vielleicht mochte sie die Beerdigungen auch nur, weil sie meist in einem gemütlichen Kaffeekränzchen endeten. Für viele war dieser so genannte »Leichenschmaus« eine perverse Sitte, aber im Allgäu war das nun mal so Brauch. Und meist waren die Toten ja nicht überraschend aus dem blühenden Leben gerissen worden. Oft lag jahrelanges Siechtum hinter ihnen. Wenn sie ihre Freundinnen am Grab traf, sagte sie häufig: »Es war sicher besser für sie« – oder für ihn, je nachdem, wer zur letzten Ruhe gebettet wurde – und erntete dafür ein verständnisvolles Kopfnicken. Ja, sie wusste, für wen es besser war. Und das waren eigentlich so ziemlich alle, denen sie in den letzen Jahren Weihwasser ins offene Grab gespritzt hatte. Bis auf ihren Mann vielleicht. Obwohl auch er sehr lange mit seinem Lungenkrebs zu kämpfen gehabt hatte und am Schluss nur noch ein Schatten seiner selbst war, konnte der Satz sie in diesem einen Fall nicht so Recht überzeugen. Auch wenn ihn ihr viele in dieser Zeit mit auf den Leidensweg gaben: »Er hat jetzt wenigstens keine Schmerzen mehr. Es war besser für ihn.« Vielleicht hatten sie Recht, aber es war ganz sicher nicht besser für sie gewesen. Auch der
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