Milchgeld: Kluftingers erster Fall
sehen, wer schon alles da war. Außerdem konnte sie sich so länger über ihre Platzwahl Gedanken machen. Sonntags, ja, sonntags war das gar kein Problem. Da hatte sie immer ihren Stammplatz. Fünfte Reihe links, Mittelgang.
Als ihr Mann noch lebte, saß er immer auf der rechten Seite des Mittelgangs, gleich »neben« ihr. Denn die Männer und die Frauen saßen getrennt. Links die Frauen, rechts die Männer.
Jedenfalls bei den anständigen Paaren. Inzwischen gab es ja sogar Pärchen, die Händchen haltend in die Kirche kamen und sich zusammen in einer Reihe niederließen. Dann schüttelte Frau Sieber jedes Mal den Kopf. Wenn sie recht überlegte, war sie ihr ganzes Leben nie auf der rechten Seite der Kirche zu sitzen gekommen. Frauen saßen eben links, das war einfach so. Warum, das wusste sie auch nicht.
Elfriede Sieber schaute sich beide Reihen genau an. Heute gestaltete sich ihre Platzwahl schwieriger, denn bei Beerdigungen brachten die Familienmitglieder immer alles durcheinander. Sonst nie in der Kirche und dann für Tohuwabohu sorgen, dachte sie sich. Die ersten drei Reihen waren frei geblieben, dann sah sie die beiden Töchter, die sie von Bildern kannte. Rechts natürlich.
Es waren viele Menschen da, die sie aus Wachters Haus kannte. Arbeitskollegen, Freunde und Bekannte. Sogar der Bürgermeister war mit seinem Büroleiter da. Wachter war eben ein wichtiger Mann gewesen, dachte sie nicht ganz ohne Stolz. Im Augenwinkel nahm sie links eine Bewegung war. Lina Riedmüller, die sie vom Altennachmittag kannte, wollte sie zu sich herwinken. Unter normalen Umständen wäre Frau Sieber sicher zu ihr hingegangen, aber heute verschwendete sie daran keinen Gedanken. Sie stand dem Toten ja fast so nahe wie eine Verwandte, da konnte sie sich nicht einfach irgendwohin setzen. Sie nahm in der Reihe hinter den Töchtern Platz. Allerdings auf der linken Seite. Kaum hatte sie sich hingesetzt, nahm sie ihr Taschentuch heraus und schnäuzte laut hörbar hinein. Die Töchter drehten sich um, sie nickte ihnen mit tieftrauriger Miene zu.
***
Wenn ich sterbe, dann werde ich in meinem Testament verfügen, dass ein anderer Pfarrer die Totenmesse hält, dachte sich Kluftinger während der Zeremonie. Er stand ganz hinten in der Kirche, gleich am Eingang. Nicht, dass es keine Plätze mehr gegeben hätte. Obwohl die Kirche für eine Beerdigung ungewöhnlich voll war – es waren viele Neugierige gekommen – hätte er sich setzen können. Aber er wollte etwas Distanz zu der ganzen Veranstaltung bewahren und er hatte das Gefühl, dass ihm das im Stehen besser gelang.
Der Pfarrer hatte gerade seine Predigt begonnen. Predigt! Kluftinger fand, dass die Ansprache das Wort gar nicht verdiente. Er war nicht oft in der Kirche, aber doch häufiger als viele seiner Kollegen. Das brachte sein Engagement in der Musikkapelle so mit sich. Andauernd war irgendeine Fahnenweihe oder ein anderes »Großereignis«, für das es sich den göttlichen Segen abzuholen galt. Aber Kluftinger machte das nichts aus. Er konnte in der Kirche gut nachdenken. Komischerweise aber nur, wenn Betrieb war. Er hatte auch schon versucht, wenn ihn ein Problem besonders belastete, einfach so in die menschenleere Kirche zu gehen um sich darüber klar zu werden. Aber das hatte nie funktioniert.
Wenn aber der Altusrieder Pfarrer sprach, konnte er hervorragend abschalten. Was vielleicht daran lag, dass seine Predigten die letzten zehn, fünfzehn Jahre alle ähnlich klangen. Manchmal fing er mit einem aktuellen Aufhänger, etwa der Nahost-Problematik oder einer bestimmten Fernsehsendung, die kürzlich gelaufen war, an und früher war Kluftinger darauf auch noch reingefallen. Wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen und hörte gespannt zu, was jetzt wohl käme. Aber sehr schnell verfiel der Pfarrer wieder in seinen inhaltsfreien Singsang. Kluftinger hatte auch als einziger sein Geheimnis entdeckt: Der Pfarrer predigte nach der Kirchenuhr. Er hatte das mehrmals beobachtet und immer war es genau gleich gewesen.
Er fing an zu predigen, ohne Konzept, und hörte immer kurz nach dem 11-Uhr-Läuten auf. Jedenfalls sonntags, bei der Halb-Elf-Uhr-Messe. Inzwischen war dieses Läuten auch für Kluftinger zu einer Art Signal geworden, dem Gottesdienst wieder zu folgen. So war es auch heute. Nachdem der Kommissar die ersten paar Worte der Predigt vernommen hatte und feststellte, dass der Pfarrer, wie immer, nicht fähig war, eine auf die Persönlichkeit des Toten
Weitere Kostenlose Bücher