Milchrahmstrudel
Roland auf der Treppe liegen sah. Aber Leni würde sich über den Vorfall Sorgen machen, würde womöglich ihre Versuchsreihen im Labor der Universität Nürnberg im Stich lassen und nach Erlenweiler kommen, um das Geschehnis mit ihrer Mutter zu besprechen. Nein, Leni sollte keinesfalls damit belästigt werden.
Gleich nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, eilte Fanni in den Flur und wählte eine Festnetznummer in Italien.
Sprudel hob nach dem zweiten Klingelton ab.
Sprudel hatte sich rargemacht im vergangenen Herbst. Der Grund dafür war, dass Fanni ihm spontan angeboten hatte, sich von Hans Rot zu trennen und mit ihm zu leben – wo immer er wollte.
»Nein«, hatte Sprudel gerufen. »Nicht gerade jetzt, nicht wegen deines schlechten Gewissens.«
»Deswegen doch nicht«, hatte Fanni widersprochen, aber Sprudel hatte sich nicht täuschen lassen.
Fannis Angebot war tatsächlich auch aus dem Wunsch geboren worden, gutzumachen, was sie Sprudel im Sommer angetan hatte.
Fannis Schuld war es nämlich gewesen, dass Sprudel gegen Ende der Ermittlungen im Fall »Magermilch« schwer verletzt worden war. Sie ganz allein war dafür anzuklagen, dass ein völlig ahnungsloser Sprudel dem Mörder ins Visier geriet, denn sie hatte Sprudel durchaus absichtsvoll über ihre Erkenntnisse im Unklaren gelassen.
Nach Fannis Anerbieten war Sprudel von einem Tag auf den anderen trübsinnig geworden, und Fanni musste einsehen, dass sie ihrem ersten großen Vergehen noch ein zweites, viel größeres hinzugefügt hatte. Keinen Augenblick lang hatte ihr Sprudel seine Verwundung angelastet, doch nun lastete er ihr eine wohlkalkulierte Willfährigkeit an, die ihn viel tiefer verletzte als die Blessuren und Knochenbrüche, die ihm der Mörder zugefügt hatte.
Bald darauf war er in seine Wahlheimat Italien gereist und hatte sich in seinem Häuschen an der ligurischen Küste verkrochen. Fanni war verzagt zurückgeblieben und hatte sich Geduld verordnet. Dabei verfluchte sie schier täglich ihre aufdringliche Gedankenstimme, die ihr mit Phrasen kam wie: Jetzt hast du die Bescherung! Da siehst du, was du angerichtet hast! Und glaub bloß nicht, dass die Zeit diesen Bruch ganz von selbst kitten wird!
Nach einigen Wochen Funkstille sagte sich Fanni, dass sie die Zeit beim Kitten eben aktiv unterstützen müsse, und begann, Sprudel regelmäßig anzurufen. Sie erzählte ihm vom beruflichen Fortkommen ihrer Zwillinge Leni und Leo, zitierte witzige und altkluge Aussprüche ihrer Enkel Max und Minna, unterhielt ihn mit Episoden von den Nachbarn in Erlenweiler. Den verflossenen Sommer erwähnte sie mit keinem Wort, klammerte ihn aus, vertuschte ihn, versuchte, ihn ungeschehen zu machen.
Das war Maskerade, aber es half. Langsam fanden Fanni und Sprudel zu einer gewissen Vertrautheit zurück.
Ende Januar reiste Sprudel wieder nach Niederbayern.
Weil sich die Schneelage in der ersten Woche als perfekt erwies und täglich eine strahlende – allerdings kaum wärmende – Sonne am blauen Himmel erschien, trafen sie sich jeden Nachmittag auf dem Kalteck, schnallten die Langlaufski an und machten sich zum Hirschenstein auf. Manchmal dehnten sie die Runde bis Ödwies aus, manchmal kehrten sie am Schuhfleck schon wieder um. Der gemeinsame Kräfteverbrauch, der ihnen kein bisschen Atemluft für Worte übrig ließ, schmiedete sie wieder zusammen.
Als das Wetter umschlug, waren sie fast die Alten.
Eines Mittags, bei Schneefall und Sturmwind, parkte Fanni ihren Wagen auf dem Feldweg unter dem Birkenweiler Hügel, wo Sprudel bereits auf sie wartete. Vom Weg aus stiegen sie zusammen über den steilen Waldpfad zu Fannis Hütterl auf. Dort angekommen, heizten sie den Herd mit dicken Scheiten, kochten Kaffee, machten es sich in den Polstersesseln bequem, und dann begannen sie endlich, über das zu reden, was sie entfremdet hatte. Sie kleideten ihre Gefühle in Worte, die sich im Verlauf der Unterhaltung immer erstaunlicher anhörten.
»Nichts wäre mir lieber«, begann Sprudel, »als den Rest meines Lebens gemeinsam mit dir zu verbringen, wo immer du willst. Aber wenn wir im vergangenen Sommer, nach meinem … Unfall damit den Anfang gemacht hätten, wäre ich wohl nie den Verdacht losgeworden, dass du nur aufgrund deines schlechten Gewissens dazu bereit warst. Selbst jetzt wäre es noch zu früh, den entscheidenden Schritt zu wagen, weil du dich noch immer schuldig fühlst. Wir müssen zuerst die Balance wiederfinden, Fanni, das Gleichgewicht, das
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