Milchrahmstrudel
ich inzwischen gehört habe – schon seit mindestens zwei Wochen im Urlaub ist. Das hätte er als Pflegedienstleiter doch wissen müssen.«
Sie atmete durch und fuhr erbittert fort: »Hanno hat nur davon geredet, wie leicht man Trugbildern zum Opfer fallen kann. Als wäre ihm daran gelegen, mich als Irre hinzustellen.«
Sprudels Antwort kam stockend. »Ich weiß nicht recht, Fanni … Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen skeptisch. Darf man das Verhalten dieses Herrn Hanno tatsächlich als verdächtig einschätzen? Versetz dich doch mal an seine Stelle. Was würdest du als Pflegedienstleiter denken, wenn eine – verzeih mir – ältere Dame auf dem Flur des Seniorenheims auf dich zugerannt kommt und dir außer Atem mitteilt, sie hätte ausgerechnet den Pfleger blutüberströmt auf der Hintertreppe liegen sehen, von dem du weißt, dass er schon seit zwei Wochen Urlaub macht? Du würdest denken, sie phantasiert. Trotzdem folgst du ihr zu dem angeblichen Unglücksort. Doch was stellt sich heraus?«
Da hat der Sprudel aber wieder mal recht – und wie!
Sprudel glaubt auch, ich spinne, dachte Fanni entgeistert.
Er deutete ihr Schweigen richtig und sagte eindringlich: »Fanni, ich habe nur versucht, die Szenerie mit den Augen des Pflegedienstleiters zu sehen, der dich zum einen nicht gut kennt und zum andern wohl tagtäglich bei seinen Pflegebefohlenen mit Sinnestäuschungen, Einbildungen und was weiß ich für psychischen Störungen zu tun hat.«
Es entstand eine kleine Pause, dann fuhr Sprudel fort: »Aber ich kenne dich, Fanni, und daher denke ich, dass es ein Verbrechen aufzuklären gibt. Ich werde also versuchen, möglichst schnell einen Flug nach München zu bekommen.«
Fanni lächelte noch, nachdem sie schon lange aufgelegt hatte.
Am Donnerstag, dem 24. Juni, trieb es Fanni schon früh aus den Federn. Sie wollte den Morgen nutzen, um das Hütterl im Wald zu lüften, sauber zu machen und mit frischen Vorräten zu bestücken.
Sprudel hatte sich am Vortag noch mal kurz gemeldet und ihr mitgeteilt, dass er am Freitag für die erste Maschine nach München gebucht war, die gegen Mittag landen würde.
Fanni würde also den morgigen Nachmittag – Hypothesen aufstellend und wieder verwerfend – gemütlich mit Sprudel in der Hütte verbringen können.
Aber jetzt musste sie sich sputen. Länger als bis elf durfte sie sich nicht am Hütterl aufhalten, weil Hans Rot Punkt zwölf am Erlenweiler Ring Nummer 8 vorfahren und Kassler mit Kraut auf dem Esszimmertisch erwarten würde sowie seine Fanni, die ihm den Teller füllen und »Guten Appetit« wünschen würde.
Als Hans Rot das Besteck aufnahm, dann aber plötzlich innehielt und »dir auch einen Guten« sagte, wusste sie, dass er ihr mit einem Anliegen kommen wollte.
Beim dritten Bissen war es so weit: »Luische kriescht heut ihwe neue Bwille.«
Fanni sah konsterniert von ihrem Teller auf. Da besann er sich, schluckte, spülte mit Bier nach und sprach deutlich: »Die neue Brille für Tante Luise ist fertig. Sie muss aber noch angepasst werden, und dazu muss Luise zum Optiker.«
»Ist es nicht Aufgabe ihres Betreuers, sie dorthin zu begleiten?«, fragte Fanni absichtlich einfältig.
Als Antwort kam undeutlich: »Anwesenheitspflicht.«
Anwesenheitspflicht, dachte sich Fanni, damit sich die leeren Schreibtische im Musterungszentrum nicht fürchten müssen, unbewacht und ganz allein sich selbst überlassen in dem riesigen hässlichen Gebäude.
Sie wollte Hans eben fragen, ob diese Anwesenheitspflicht durchgehend bis zu seiner Pensionierung gelte, was ihn auch morgen, übermorgen und kommende Woche daran hindern würde, seiner Tante die neue Brille anpassen zu lassen, da kam ihr ein verlockender Gedanke.
Du willst noch mal nach dem verschwundenen Roland Becker suchen?
Das wäre sicher genauso vergeblich wie gestern, dachte Fanni. Aber ich würde gern herausfinden, ob Roland …
Ja, was?
Ab wann Roland wieder zum Dienst eingeteilt ist, beispielsweise.
»Gut«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich fahre gleich nach dem Essen in die Katherinenresidenz und bringe Tante Luise zum Optiker.«
Hans Rot vergaß zu kauen. »Heute?«
»Heute«, bestätigte Fanni mit fester Stimme. »Heute um zwei. Wäre nett von dir, wenn du mich telefonisch bei deiner Tante ankündigen würdest – und uns beide beim Optiker.«
Hans nickte. Und zog es ausnahmsweise vor, den Mund zu halten.
3
Um halb zwei bereits bog Fanni in den rückwärtigen Parkplatz des Seniorenheims ein.
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