Miles Flint 01 - Die Verschollenen
Bereiche des Hafens.
Flint warf einen Blick durch die Tür. Reese war dort, zusammen mit Carryth, dem Anwalt, den Reese für die Wilders besorgt hatte. Jonathan Wilder, den Arm fest um seinen Sohn gelegt, stand gleich neben Reese. Die beiden Männer schienen sich zu unterhalten.
Der Junge hatte sein Gesicht im Hemd seines Vaters vergraben. Er zitterte am ganzen Leib, und im nächsten Moment wurde Flint klar, dass Jasper weinte.
Es war nicht schwer darauf zu kommen, was hier vorgefallen war. Die Wygnin hatten Justine Wilders Bedingungen akzeptiert. Sie war mit ihnen gegangen und hatte ihre Familie allein zurückgelassen.
Flint betrat den kleineren Raum und räusperte sich. »Entschuldigung«, sagte er, »aber ich muss mit Reese sprechen.«
Jonathan Wilder sah sich zu Flint um. Sein Gesicht war von Kummer gezeichnet, und er war an diesem letzten Tag um Jahrzehnte gealtert. In seinen Augen spiegelte sich eine Verzweiflung, die Flint nur allzu gut kannte: die Art Verzweiflung, die einen unerwarteten und unvorstellbaren Verlust begleitete.
»Es dauert nur einen Moment«, versprach Flint.
Reese nickte, sprach dann leise mit Wilder und berührte kurz seinen Arm. Wilder zog seinen jungen fester an sich und sah sich zu der Tür um, die hinaus zu den Terminals führte. Seine Frau musste gerade erst hindurchgegangen sein, um einen Ort aufzusuchen, von dem Flint nicht recht wusste, ob er ihn sich auch nur annähernd vorstellen konnte.
Wie furchtbar musste es gewesen sein, sie gehen zu lassen, nachdem ihr Mann erst vor wenigen Stunden erfahren hatte, was sie getan hatte, zu wissen, dass sie nie zurückkommen würde. Selbst wenn die Wygnin sie gehen ließen oder Wilder am Ende doch einen Prozess zu seinen Gunsten entscheiden konnte, ihre Persönlichkeit wäre auf ewig zerstört.
Reese näherte sich mit Carryth an seiner Seite. Sie ließen Wilder allein zurück, der noch immer die Tür zu den Terminals anstarrte, während seine Hand besänftigend über Jaspers Schultern glitt.
Flint konnte den Knaben nicht einmal ansehen. Er hatte versucht, ihm zu sagen, alles würde wieder in Ordnung kommen, seinen Schwestern würde nichts geschehen, was nicht mehr und nicht weniger implizierte als, seiner Familie würde nichts Böses widerfahren.
Aber trotz all seiner guten Absichten hatte Flint gelogen. Vielleicht hatten die Rev Recht. Vielleicht war unter bestimmten Umständen einfach jede Art der Irreführung ein Verbrechen.
»Fassen Sie sich kurz«, sagte Reese, als er näher trat. »Das ist nicht gerade der beste Tag in meinem Leben.«
Carryth bedachte ihn mit einem verärgerten Blick, den der Stadtsyndikus allerdings nicht sehen konnte. Carryth hatte verstanden, dass Reese nicht derjenige war, der hier zu leiden hatte. Das war die Wilderfamilie. Sie würden nie mehr dieselben sein.
»Sind alle Wygnin mit Mrs. Wilder gegangen?«, fragte Flint in der Hoffnung, er könnte noch mehr Zeit herausschinden.
»Wenn es nur so einfach wäre«, seufzte Reese.
»Natürlich nicht«, beantwortete Carryth die Frage. »Drei Wygnin sind mit Mrs. Wilder gegangen. Die beiden anderen sind geblieben und warten auf den jungen Ennis.«
»Nun«, sagte Flint in einem sachlichen Ton, der ihm den Anschein der Besorgnis verlieh und wirkungsvoll verbarg, dass er versuchte, das System zu manipulieren. »Ich fürchte, in dem Punkt stehen wir vor einem Problem.«
»Sagen Sie mir nicht, dass sie das Baby geholt haben«, sagte Reese. »Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Sind die etwa einfach in das Hotel gegangen und haben sich das Kind geholt?«
»Nein«, antwortete Flint, der im Stillen wünschte, er hätte es nur mit Carryth zu tun. Carryth machte wenigstens einen vernünftigen Eindruck. »Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass wir nach dem Gesetz nicht berechtigt sind, Ennis weiter festzuhalten.«
»Was?«, fragte Reese so laut, dass sogar Wilder zusammenzuckte. Er blickte über die Schulter zurück, schien dann aber zu begreifen, dass die Diskussion ihn nicht betraf, woraufhin sich seine Schultern als sichtbarer Ausdruck eines Seufzers hoben und wieder senkten, ehe er sich erneut der Tür zuwandte, durch die er seine Frau hatte entschwinden sehen.
»Ohne Grund dürfen wir eine Person nicht länger als vierundzwanzig Stunden festhalten«, erklärte Flint.
Carryth rieb sich das Kinn, als hätte Flint ihn zum Nachdenken gebracht.
»Was ist mit dem Vollzugsbefehl der Wygnin?«, fragte Reese.
»Bis jetzt haben sie noch nicht bewiesen,
Weitere Kostenlose Bücher