Miles Flint 02 - Die Lautlosen
wollte wissen, was uns zu Menschen macht, wie uns extreme Situationen verändern können und ob wir uns gefährlichen Umweltbedingungen anpassen können oder nicht.«
Tokagawa biss sich auf die Unterlippe, als müsse er sich Mühe geben, nichts zu sagen. Oliviari versuchte, nicht auf die Zeit zu achten, darauf, dass jede Minute, jede Sekunde Menschenleben kosten konnte. Wenn es ihr nicht gelang, ihn zu überzeugen, würde sie vermutlich mehr als nur ein paar Minuten verlieren.
Sie mochte Stunden an die Polizei und deren Befragungen verschwenden und womöglich in der Zelle landen.
»Frieda Tey hat all diese Dinge in wissenschaftliche Termini gefasst. Sie hat geglaubt, wissenschaftliche Methoden könnten ihr mehr über die Leute verraten, als die Leute selbst. Sie hat auf Biologie und Psychologie, aber auch auf die gut quantifizierbaren, so genannten ›harten‹ Wissenschaften zurückgegriffen, um die Grenzen menschlicher Möglichkeiten zu erkunden. Sie war der Ansicht, dass die Menschen, wenn sie die Beziehungen zwischen Menschen und Aliens mit wissenschaftlicher Strenge behandeln würden, vielleicht – aber nur vielleicht – bessere Chancen im Universum haben würden.«
Tokagawa schluckte so schwer, dass Oliviari seinen Adamsapfel hüpfen sehen konnte. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Wenn sie sich um all das so viele Sorgen gemacht hat, warum sollte sie dann so viele Menschen töten?«
»Ihre Forschungsassistenten haben behauptet, es sei ein Unfall gewesen, und damit hat sie sich auch immer verteidigt.« Wieder schauderte Oliviari. »Aber ich glaube, dass das Experiment so angelegt war. Tey wusste, dass Menschen sterben würden. Sie hat damit gerechnet. Sie hat nur nicht damit gerechnet, dass sie alle sterben.«
Tokagawa schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Es gab eine Dekon-Einheit in der Kuppel«, sagte Oliviari. »Angeblich war sie für die Personen vorgesehen, die die Kuppel betreten oder verlassen wollten. Die Dekon-Einheit hatte bereits in einem frühen Stadium Fehlfunktionen – der Hersteller sagt, jemand hätte daran herumgespielt, denn sie sei darauf ausgelegt gewesen, eine Vielzahl von Viren unschädlich zu machen und hätte imstande sein müssen, mit dem mutierenden Tey-Virus fertig zu werden. Die Kolonisten haben versucht, sich mit ihrer Hilfe von dem Virus zu befreien; aber es hat nicht funktioniert.«
»Und?«, fragte Tokagawa.
»Und«, antwortete Oliviari, »ich denke, dass Tey herausfinden wollte, wie erfinderisch die Leute waren. Die Werkzeuge, die benötigt wurden, um die Dekon-Einheit zu reparieren, befanden sich in der Kuppel, aber die Kolonisten kannten sich damit nicht aus. Tey dachte, sie würden unter diesen Umständen über sich hinauswachsen, doch das taten sie nicht. Als sie herausgefunden hatten, dass die Einheit nicht funktionierte, und die Leute immer kränker wurden, haben die Kolonisten Tey angefleht, sie aus der Kuppel zu holen. Sie hat es nicht getan.«
»Warum sollte irgendjemand so etwas tun?«, fragte er.
»Ich denke, sie war überzeugt, dass sie eine Lösung gefunden hätten, wäre sie nicht in der Nähe gewesen.« Oliviari hatte ihre Aufzeichnungen gelesen. »Sie dachte, dass die Leute sich auf sie verlassen hatten, statt sich selbst an die Arbeit zu machen.«
»Hatte sie recht?«
»Nein«, antwortete Oliviari. »Menschen verfügen über unterschiedliche Fähigkeiten. Wir denken unterschiedlich. Und nur, weil wir in einer schlimmen Lage sind, können wir nicht alle schlau oder heroisch agieren. Zu glauben, wir wären dazu imstande, ist ein Fehler. Frieda Tey hat sich nie angemessen mit menschlicher Interaktion befasst. Sie hat eine Menge über theoretische Psychologie gelesen, aber das ist nicht das Gleiche wie die Beobachtung lebender Personen.«
»So wie Sie die Menschen beobachten, meinen Sie«, kommentierte Tokagawa trocken.
»Das ist mein Job.« Oliviari gab sich alle Mühe, nicht panisch zu klingen. Das Frösteln hatte aufgehört; dafür wurde ihr nun furchtbar heiß.
»Was bedeutet, dass Sie mehr wissen als die Wissenschaftler.«
»Auf diesem einen Gebiet«, entgegnete sie. »Ich weiß, dass Leute in verzweifelter Lage einen Anführer brauchen – jemanden, der bereit ist, Risiken einzugehen, jemanden, der gewillt ist, sich zu bemühen.«
»Sie glauben nicht, dass Menschen über sich hinauswachsen können?«
»Sicher können sie. Aber das bedeutet nicht, dass jemand, der über sich hinauswächst, auch über die notwendigen
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