Miles Flint 02 - Die Lautlosen
der Sache nachzugehen.
Allerdings bestand die Möglichkeit, dass der Mann seinen Panikknopf nur versehentlich gedrückt hatte und das Team es nicht für nötig befunden hatte, die Zeit Anderer mit einem nichtigen Behandlungsbericht zu vergeuden. Ein weiteres Risiko lag darin, dass Oliviari, wenn sie sich in fremde Fälle einmischte, Gefahr lief, die Gelegenheit zu verpassen, sich wenigstens um eine Frau im Rennen zu kümmern. Je mehr Chancen sie aber hatte, auf der Strecke in Aktion zu treten, desto weniger hatte sie noch zu tun, wenn das Rennen zu Ende war.
Ein anderes Problem bestand darin, dass Oliviari, würde sie den Teamleiter ansprechen, Aufmerksamkeit auf ihre Person lenken würde. Der Schlüssel ihres Erfolgs als Kopfgeldjägerin hatte jedoch stets darin bestanden, sich bedeckt zu halten und nicht aufzufallen. Sie meldete sich nicht einmal bei den jeweiligen örtlichen Behörden, wie es von Kopfgeldjägern üblicherweise erwartet wurde.
Im Laufe der Jahre hatte sie herausgefunden, dass es in den Behörden oft undichte Stellen gab, aus denen die Verschwundenen Informationen erhielten. Manchmal arbeiteten Verschwundene sogar selbst bei den entsprechenden Regierungsstellen, nur um Gelegenheit zu bekommen, eintreffende Kopfgeldjäger zu beobachten.
Oliviari ließ sich von niemandem übertrumpfen – und genau darum ärgerte sie der Fall Tey. Es schien, als wäre ihr Tey von Anfang an überlegen gewesen.
Oliviari verdrängte den Gedanken. Sie wollte herausfinden, was es mit dem mysteriösen Hilferuf auf sich hatte, auf den Team Zwei reagiert hatte. Tey war die Art Frau, die ein Rennen wie dies als Herausforderung betrachten musste, und Oliviari fürchtete, sie könnte Tey verpassen, wenn sie auch nur das kleinste Detail ignorierte.
Oliviari rief die Videobilder des Rennens auf und ließ sie vor dem Hintergrund der echten Mondlandschaft auf ihrem Visier anzeigen. Von der Technik ihres Anzugs ließ sie sich außerdem über die jeweiligen Koordinaten und Meilensteine informieren, die logischerweise fortlaufend erscheinen sollten. Da sie dem medizinischen Notfallteam angehörte, sollten die Daten für sie uneingeschränkt abrufbar und sie in der Lage sein, die Einsatzkräfte bei der Arbeit zu beobachten.
Die beiden Erstversorgungskräfte aus Team Vier kauerten neben dem männlichen Läufer. Der saß am Boden, und seine Füße zitterten, als wollten sie das Rennen allein fortsetzen. Team Drei war dabei, seinen Patienten ins Fahrzeug der Streckenambulanz zu verladen, und ein Mitglied von Team Eins sprühte etwas auf den Arm der verletzten Frau, vermutlich ein zusätzliches Dichtungsmittel für den Anzug.
Wie so viele dieser Athleten schien auch diese Frau das Rennen unbedingt zu Ende bringen zu wollen, vermutlich um sich irgendetwas zu beweisen. Als würde ein Wettstreit unter derart künstlichen Bedingungen, wie sie der Marathonlauf mit sich brachte, irgendetwas beweisen. Niemand erfuhr je, aus welchem Stoff er gemacht war, solange er nicht von einer lebensbedrohlichen Situation überrascht wurde, statt sich bewusst in eine Gefahr zu begeben, für die er die letzten fünf Jahre trainiert hatte.
Zwischen Meile Fünf und Meile Sechs klaffte eine Lücke. Die Kameras der Umgebung waren auf einen großen Felsbrocken gerichtet, beinahe, als wären sie beschädigt und aufs falsche Ziel eingestellt. Als Oliviari versuchte, die Einstellung zu modifizieren, färbte sich ihr Visier schwarz.
Die Bilder waren fort. Nur die Mondlandschaft war noch zu sehen: die von Menschen gemachte Straße, die Laufstrecke, die in die Ferne führte, der dunkle Horizont, der stets so nahe zu sein schien.
Oliviari versuchte, die Bilder erneut aufzurufen und auf die Dateneinspeisung zuzugreifen, die den medizinischen Teams zur Verfügung stehen sollte, aber ein Neustart war nichtmöglich.
Offensichtlich waren ihre Abfragen irgendjemandem aufgefallen – und diesem Jemand hatte nicht gefallen, was sie getan hatte.
Oliviari seufzte. Das Einzige, was sie nun noch tun konnte, war, den medizinischen Leiter aufzusuchen und sich nach Team Zwei zu erkundigen, sich dumm zu stellen und nachzufragen, ob es ein Problem mit der Kommunikation gäbe, statt ihren Verdacht zu äußern, dass irgendetwas vertuscht werden sollte.
Obwohl sie wusste, was dieses Irgendetwas war. Jemand war zwischen Meile Fünf und Sechs auf der Strecke gestorben. Das war der Grund, warum die Polizei gerufen worden war; das war der Grund für den Abbruch der Videoübertragung.
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