Miles Flint 02 - Die Lautlosen
Million Gründe.«
»Wie zum Beispiel?«, hakte van der Ketting nach, und der herausfordernde Ton in seiner Stimme gefiel ihr gar nicht.
Dennoch antwortete sie ihm, vor allem, weil sie sich über ihn ärgerte. Immerhin war sie die Erfahrene. Sie war diejenige, die einen Blick für die Details entwickelt hatte – und diejenige, die verstand, was sie sah.
»Wie zum Beispiel die verkratzte Gesichtsplatte«, sagte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist vermutlich erst post mortem passiert. Ein Läufer rennt vorbei und schleudert einen Stein gegen die Kunststoffoberfläche.«
»Ach? Tatsächlich?«, fragte sie. »Und dessen können Sie ganz sicher sein?«
»Es ist logisch. Sie ist nicht an plötzlichem Druckverlust gestorben.«
»Natürlich nicht«, sagte DeRicci. »Der Kratzer hat kein Loch in der Scheibe verursacht. Aber ich würde wetten, dass jemand versucht hat, die Gesichtsplatte aufzubrechen, doch er ist gestört worden.«
»Warum sollte irgendjemand so etwas tun?«
»Um jegliche Beweise zu zerstören, die an der Leiche zu finden wären«, antwortete DeRicci. »Die Leiche wäre sofort ein Opfer des Druckverlusts geworden, und wir müssten uns mit einer Sauerei anstelle einer echten Leiche herumschlagen.«
»Wenn das ein Mord ist«, sinnierte van der Ketting, »warum wurde sie dann nicht gleich auf diese Art ermordet? Warum erst die Sauerstoffversorgung unterbrechen und dann einen Druckverlust herbeiführen? Warum nicht gleich den direkten Weg einschlagen?«
DeRicci zuckte mit den Schultern. Sie betrachtete den Leichnam, den nagelneuen Anzug und das geschwärzte Gesicht hinter dem Visier. »Das ist nur eine der vielen Fragen, die wir beantworten müssen.«
»Ich glaube immer noch, der Kratzer wurde von einem Stein verursacht.« Van der Ketting machte Anstalten, die Arme vor der Brust zu verschränken, hielt aber auf halbem Wege in der Bewegung inne und streckte die Hand aus, um das Gleichgewicht zu wahren.
DeRicci ignorierte seine Probleme. Sie konzentrierte sich nach wie vor auf die Leiche. »Also schön … Sagen wir, ein anderer Läufer hat den Kratzer verursacht. Das würde bedeuten, dass die Form des Kratzers – die beinahe exakt dem blitzförmigen Muster an der Stiefelsohle entspricht – nur ein Zufall ist.«
Van der Ketting starrte die Stiefel an. »Und Sie denken, es ist keiner?«
»Genau«, bestätigte DeRicci. »Ich denke, jemand hat diese Markierung mit Absicht hinterlassen, um uns auf die Verbindung zwischen den Stiefeln und der Gesichtsplatte aufmerksam zu machen.«
»Warum sollte jemand so etwas tun? Ist ein Zufall da nicht logischer?«, fragte van der Ketting.
»Einer meiner ehemaligen Partner hat mal gesagt, er würde nicht an Zufälle glauben«, erwiderte DeRicci.
»Glauben Sie daran?«
Sie lächelte van der Ketting an. »Nein, das tue ich nicht. Nicht, wenn ich es mit einem Mord zu tun habe.«
»Ein Kratzer ist kein Beweis«, wandte van der Ketting ein. »Und er reicht bestimmt nicht, mich davon zu überzeugen, dass hier ein Mord geschehen ist.«
»Dann reden wir mal über die Lage der Leiche«, sagte DeRicci. »Haben Sie schon einmal jemanden gesehen, der an Sauerstoffmangel gestorben ist?«
»Bis heute nicht.« Der herausfordernde Ton war immer noch erkennbar, aber nicht mehr so deutlich wie zuvor.
»Wissen Sie, wie lange es dauert, bis der Tod eintritt, wenn kein Sauerstoff mehr verfügbar ist?«
Van der Ketting berührte seinen Anzug – wieder so eine unwillkürliche Geste. DeRicci würde diesem Burschen beibringen müssen, Poker zu spielen oder irgendetwas in der Art. Er verriet sich wirklich mit jeder Bewegung.
»Darüber möchte ich hier draußen wirklich nicht nachdenken«, sagte er leise.
»Tja, das ist aber genau der richtige Ort, um darüber nachzudenken.« DeRicci blickte zur Erde empor, die den Himmel über ihnen beherrschte. So stark, so machtvoll, der Ort, von dem die Menschen gekommen waren und immer noch ein Ort, an dem man rausgehen konnte, ohne sich vor dem Tod fürchten zu müssen.
»Wie lange dauert es, Leif?«, fragte DeRicci, und dieses Mal hatte sie ihn mit Bedacht bei seinem Vornamen angesprochen.
»Keine Ahnung. Ein paar Minuten vielleicht«, antwortete er.
»Was denken Sie, würden Sie während dieser Minuten tun?«, fragte DeRicci weiter. »Falls, beispielsweise, Ihr Anzug versagt und sie feststellen, dass sie keine Luft mehr bekommen?«
»Ich würde versuchen, ihn zu reparieren. Ich würde um Hilfe rufen und versuchen, das
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