Miles Flint 03 - Die Tödlichen
Gedanke, dass er manipuliert werden sollte, regte sich erneut. Tote Kinder – gleich welchen Alters – gehörten zu den wenigen emotionellen Haken, an denen ihn die Leute allzu leicht aufhängen konnten.
»Ja, wir waren furchtbare Eltern.« Die Tränen hatten einen Weg in Dr. Lahiris Stimme gefunden. »Wertend, streng und fordernd. Und selbstsüchtig. Wir haben unsere Berufe niemals aufgegeben, haben zu hart gearbeitet und unsere Kinder kaum gesehen. Und wenn wir sie gesehen haben, dann haben wir versucht, Menschen aus ihnen zu machen, die sie nicht waren. Sie haben sich so viel Mühe gegeben, uns zu beeindrucken. Ich glaube, das ist der Grund, warum Carolyn nach Etae gegangen ist. Ich bin sicher …«
Ihr brach die Stimme, und sie schluckte schwer. Richter Lahiri legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie rückte von ihm ab.
Flint fragte sich im Stillen, ob sie wirklich beide streng und wertend gewesen waren oder doch nur einer von ihnen. War die sichtbare Intimität der beiden ein Zeichen von Nähe oder doch nur Gewohnheit oder gar eine Fassade?
»Sie wollen sie um Ihretwillen zurückhaben.« Flint sprach absichtlich in einem unwirschen Ton. »Sie wollen eine zweite – nein, eine dritte – Chance. Sie wollen die Schuldgefühle loswerden, unter denen Sie wegen ihres Verschwindens und des Todes Ihres Sohnes leiden. Sie agieren wieder selbstsüchtig und setzen das Leben ihrer Tochter aufs Spiel, um sich selbst besser zu fühlen.«
Der Richter kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, doch seine Frau nickte.
»Wir möchten sie nur noch ein letztes Mal sehen, damit wir ihr zeigen können, dass wir sie lieben.« Allmählich klang Dr. Lahiris Stimme etwas kräftiger. »Und wenn wir sie nicht sehen können, wenn sie nicht zurückkommen will, dann möchten wir, dass Sie ihr das sagen. Und ja, das tun wir für uns, aber vielleicht auch für sie. Vielleicht wünscht sie sich das. Sie ist jetzt älter. Sie könnte sich verändert haben.«
»Und zu jemandem geworden sein, der Ihnen gefällt«, ergänzte Flint.
»Das reicht«, sagte der Richter.
»Nein«, schnappte Flint. »Das reicht nicht. Ich nehme derartige Aufträge nicht an. Das ist exakt die Art von Arbeit, die das Leben unschuldiger Menschen fordern kann. Gehen Sie nach Hause. Denken Sie nach. Sprechen Sie mit Ihrem religiösen Beistand, und drücken Sie Ihren Freunden gegenüber Ihre Schuldgefühle aus. Aber lassen Sie Ihre Tochter in Ruhe. Sie hat offensichtlich ihre Wahl getroffen.«
Der Richter hob den Kopf ein wenig, eine Bewegung, die offenbar einschüchternd wirken sollte und dafür sorgte, dass er auf Flint herabblicken konnte. Aber Flint reagierte nicht. Stattdessen wartete er.
Endlich tippte der Richter seiner Frau auf den Arm – ein wahrlich herrschaftlicher Befehl – und ging.
Aber Dr. Lahiri rührte sich nicht. Sie starrte Flint an, als könne sie nicht glauben, dass er so zu ihr gesprochen hatte. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange.
»Ich glaube Ihnen«, wisperte sie. »Ich möchte meine Tochter nicht in Gefahr bringen.«
Dann geh, dachte Flint, sprach es aber nicht aus. Die Ärztin war ihm sympathischer als ihr Ehemann, und er hegte langsam den Verdacht, dass sie weniger mit den Schwierigkeiten ihrer Kinder zu tun hatte als der Richter.
Flint widerstand dem Wunsch, seine Schirme hochzufahren, um nachzusehen, was der Richter tat. Stattdessen wartete er darauf, dass auch Dr. Lahiri sein Büro verließ.
»Wenn ich Sie bitten würde, meiner Tochter eine Botschaft zu überbringen, nur einen kleinen Brief, eine Entschuldigung, würden Sie das tun?«
»Dr. Lahiri …«
»Nachdem Sie all Ihre Nachforschungen durchgeführt haben, natürlich, und nachdem Sie entschieden haben, ob Sie den Fall übernehmen oder nicht. Ich möchte nicht, dass Sie sie in Gefahr bringen, nur weil wir …«
Sie wedelte mit den Händen, als würden ihr die Worte fehlen. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Das ist genau das, was ich die ganze Zeit versuche, Ihnen zu erklären«, sagte Flint sanft. »Schon die vorausgehenden Nachforschungen könnten Ihre Tochter in Gefahr bringen.«
Dr. Lahiri biss sich auf die Unterlippe. Dann sah sie sich zur Tür um. Sie blieb geschlossen. Die Frau trat einen Schritt näher an Flints Schreibtisch heran.
»Darum hat sich mein Mann so aufgeregt«, sagte sie. »Sie müssen verstehen … Er dachte, er würde schon aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen wissen, wie man eine Verschwundene finden
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