Miles Flint 04 - Das Marsgrab
klebrigen Masse überzogen wurde.
Meine Schwester – sie war zehn – schrie die Mörder an, sie sollten aufhören, aufhören!, als zuerst mein Vater und dann meine Mutter in einem See aus eigenem Blut zu Boden gingen.
An dieser Stelle musste da Ponte eine Pause einlegen, die Augen geschlossen, eine Hand auf den Mund gepresst. Als er die Augen wieder öffnete, blickte er zu Boden, nicht länger bereit, in die Linse der Kamera zu starren.
Diese innere Bewegtheit überzeugte Scott-Olson mehr als alles andere, dass der alte Mann die Wahrheit sagte.
»Sie schossen und schossen und schossen – meine Schwester brach zusammen, während sie sie immer noch anschrie –, und dann richteten sie die Waffe auf meinen Bruder. Er hat sich nass gemacht – ich konnte es riechen –, aber er hat nichts gesagt. Seine Finger haben sich in meine Handfläche gegraben. Sie haben geschossen und … «
Da Pontes Stimme versagte. Er schüttelte den Kopf, und das Video brach ab. Später fügte er nur noch hinzu:
Sie haben lange gedacht, ich wäre auch tot.
Ein kleiner Junge, keine vier Jahre alt, um ihn herum seine tote Familie, umgeben von vielleicht fünfzig anderen Leichen von Freunden und Erwachsenen, die er schon sein ganzes Leben lang gekannt hatte, und er lag im Sand und umklammerte die Hand seines toten Bruders.
An diesem Punkt hörte Scott-Olson auf. Sie konnte nicht noch mehr von dieser Geschichte ertragen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, als Nigel schließlich die Tür öffnete.
»Es geht los«, meldete er.
Scott-Olson brauchte einen Moment, bis sie begriff, was er gesagt hatte. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um ein Bürgerwehrkomitee und um Menschen, die so versessen darauf gewesen waren, ihr bisschen Land zu verteidigen, dass sie dafür sogar Kinder ermordet hatten.
»Doc?«, fragte Nigel. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
Sie nickte, doch erst jetzt begriff sie, was er gemeint hatte. Die ersten Leichen kamen herein. Die Opfer der jüngsten Katastrophe.
Und unter ihnen würde es auch wieder tote Kinder geben.
Scott-Olson erhob sich. Sie zitterte so heftig wie da Ponte, als er seine Erinnerungen aufgezeichnet hatte. Wie konnte irgendjemand je seine Seele von diesem Makel reinigen?
Vielleicht hatten die Disty doch nicht so Unrecht. Vielleicht konnten manche Ereignisse einen Ort wirklich für alle Zeiten kontaminieren.
Scott-Olson verließ ihr Büro. Ein Dutzend Labortechniker trug die Leichen herein. Männlich, weiblich, Menschen, Disty, Erwachsene, Kinder.
Die Arbeit der Gerichtsmediziner begann.
48
D ie Stunde war gekommen und vergangen, und sie hatten keine Lösung gefunden. Jefferson saß auf dem Tisch in dem Versammlungsraum, umgeben von Disty und Menschen und einer Hand voll anderer Amtsträger der Allianz – Peyti, Nyyzen, Ebe –, von denen im Übrigen keiner das Disty-Protokoll befolgte und mit nackten Füßen auf Tischen hockte.
Jefferson kam sich wie ein Idiot vor. So ging es ihm schon, seit Nummer Sechsundfünfzig offenbar die Seiten gewechselt hatte und nun den Mondboykott befürwortete, einen Boykott, der sich auch auf die Erde ausdehnte (nicht, dass das überraschend gekommen wäre – niemand hatte damit gerechnet, dass die Erde Disty-Flüchtlinge mit offenen Armen empfinge).
Die Temperatur in dem Raum war gestiegen, und Jeffersons Füße fühlten sich nicht mehr so kalt an wie noch zuvor. Sein Magen hatte bereits vor einer Stunde zu knurren angefangen, und er gierte nach Essen, war aber klug genug, nicht in Gegenwart eines Disty zu essen.
Die Verhandlungen machten den Eindruck, nie enden zu wollen.
Jefferson legte eine Informationstafel in die Mitte des Tisches. Dann zog er die Hand zurück, sodass er weder die Tafel noch den Schirm berührte, als Nummer Sechsundfünfzig danach griff. Dergleichen hätte ein Disty in höchstem Maße gekränkt.
Jefferson deutete mit einem Nicken auf die Tafel und die Information, die er angefordert hatte. Auf Englisch sagte er: »Wir können nirgendwo in diesem Sonnensystem einen verfügbaren Ort finden. Nichts, was groß genug oder so frei von Disty wäre, um mit dem Flüchtlingsproblem fertig zu werden.«
»Das stimmt mit unseren Informationen überein«, entgegnete Nummer Sechsundfünfzig in derselben Sprache.
»Wir haben uns folglich nach leeren Raumstationen umgesehen«, fuhr Jefferson fort. »Und sogar nach älteren, aber noch funktionstüchtigen Generationenschiffen, die wir mit Nahrung und anderen
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