Miles Flint 04 - Das Marsgrab
tatsächlich.
»Ah«, machte Jefferson, der sich plötzlich so klein vorkam wie ein frisch in Dienst gegangener Attaché. »Tja, wenn wir Hunderte von Leuten aufgrund eines Notfalls umquartieren – Angehörige aller möglichen Spezies –, dann werden sie zumindest erwarten, dass ihre Heimat nicht zerstört wird.«
»Wenn wir das Kontaminationsproblem nicht lösen können«, entgegnete Nummer Sechsundfünfzig, »haben wir, wie gesagt, keine andere Wahl.«
»Wir schon«, warf Jefferson ein, und er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. »Viele Nicht-Disty könnten bereit sein, mit dem Problem zu leben.«
»Und folglich für immer von jeglicher Interaktion mit den Disty ausgeschlossen sein? Sie könnten nicht einmal mehr eine Stadt besuchen, in der Disty leben! Das wäre mehr als nur eine kleine Unannehmlichkeit.« Nummer Sechsundfünfzig sah sich zu seinen Kollegen um, die dem Gespräch alle mit großem Interesse folgten. »Natürlich werden wir für jeglichen Verlust an Besitz finanziell aufkommen.«
»Die Bewohner der Station und die Menschheit an sich von vorneherein für ein derartiges Szenario zu gewinnen dürfte kaum möglich sein«, bemerkte Jefferson. »Wir bieten Ihnen diesen Ausweg aus rein humanitären Gründen an, und Sie würden diese Gründe negieren, wenn Sie zu …«
Beinahe hätte er Mord gesagt, doch er schaffte es gerade noch, sich selbst zu zügeln.
Nummer Sechsundfünfzig schien jedoch so oder so zu wissen, in welche Richtung dieser Kommentar zielte. Er legte den langgezogenen Kopf schief und musterte Jefferson. Sechsundfünfzigs Augen glitzerten in dem diffusen künstlichen Licht.
»Das Wort humanitär ist so interessant, finden Sie nicht?«, sagte Sechsundfünfzig. »Seine kulturellen Voraussetzungen, seine Ausrichtung, all das steckt in den ersten fünf Buchstaben: human. Ehrlich, wir Disty sind nicht daran interessiert, human zu handeln. Das liegt nicht in unserer Natur.«
Jefferson fühlte, dass seine Wangen jetzt förmlich glühten. »Ich wollte nicht andeuten, Sie sollten human handeln. Hingegen wollte ich Ihnen erklären, dass meine Spezies auf dieser Basis handeln würde. Sie empfände es als Beleidigung unserer kulturellen Werte, wenn sie zusehen müsste, wie eine Geste, die auf Humanität zielt, in Zerstörung mündet.«
Er gab sich selbst ein paar Pluspunkte, weil er sich nicht zu defensiv angehört hatte und es erneut geschafft hatte, das Wort Mord zu meiden.
»Wollen Sie damit sagen, dass wir, wenn wir Ihre Hilfe annehmen, ohne uns Ihren Regeln zu beugen, große kulturelle Unruhe innerhalb der menschlichen Spezies auslösten?«
»Ja«, erwiderte Jefferson.
»Und doch sagen Sie uns immer wieder, die Menschen hätten keine einheitliche Kultur! Sie hätten viele Kulturen, und darauf seien Sie sogar ziemlich stolz. Sie behaupten, die Mannigfaltigkeit sei Ihre besondere Stärke.«
»Manche Dinge sind dennoch allgemein gültig.«
»Aber der Auslöser für diese Krise ist doch gerade der Mangel an Humanität!«, warf Nummer Sechsundfünfzig ein.
»Bitte?«
»Ein Massengrab. Meine Quellen verraten mir, dass all die Menschen, deren Leichen in diesem Grab gefunden wurden, zur selben Zeit gestorben sind, zu einer Zeit, in der noch keine Disty auf dem Mars gelebt haben. Demzufolge sind entweder andere Aliens in die Saharakuppel gekommen und haben hundert Menschen in einem einzigen aggressiven Übergriff getötet, oder die Menschen haben das ihresgleichen angetan.«
»Wir sind nicht für dieses Massengrab verantwortlich«, unterstrich Jefferson. »Welche Verschwörungstheorien Ihre Regierung auch entwickeln mag, sie können nur falsch sein! Wir hatten keine Kenntnis von diesen Leichen, bis diese Krise ausgebrochen ist.«
»Jemand hatte aber Kenntnis davon«, sagte Sechsundfünfzig. »Jemand hat einen geschändeten Leichnam dazu benutzt, die Aufmerksamkeit auf das Massengrab zu lenken, in dem Wissen, dass die Disty gezwungen wären, den Boden zu untersuchen, ehe sie die Gegend für sauber erklären können. Jemand hat es gewusst. Und wenn diese Toten das Ergebnis eines Übergriffs von Menschen auf Menschen sind, dann war dieser Jemand auch ein Mensch.«
Jefferson fühlte sich vollends überfordert. »Wir versuchen hier, Leben zu retten. Wenn Sie darauf beharren, uns zu beschuldigen und sich mit uns herumzustreiten, werden Ihre eigenen Leute sterben!«
»Sie deuten also an, dass wir die Verantwortung übernehmen sollen«, meinte Nummer Sechsundfünfzig und ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher