Miles Flint 06 - Kallisto
zuzuhören.
Er drehte sich um. Der Avatar tat immer noch etwas mit ihrem Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Vermutlich konnte Yu sie gefahrlos aus der Kammer herauslassen, solange beide in der Blase gefangen waren, aber das würde er nicht tun. Unterhalb ihres Gesichts war sie nicht verwundet, zumindest nicht so schlimm, dass es einer Behandlung bedurft hätte.
Sollte sie etwas brauchen, konnten die Gyonnese sich darum kümmern. Er hatte genug zusätzliche Ausgaben hinnehmen müssen. Er würde die Wunde an seiner Seite von echten Ärzten untersuchen und sich eine Ersatzhand anpassen lassen müssen. Die verdammte Hand war inzwischen vollkommen unbrauchbar.
Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, ein Laserskalpell als Waffe zu benutzen.
So wenig, wie er früher je auf die Idee gekommen wäre, sie einfach an den Höchstbietenden zu verhökern.
Mit der gesunden Hand rieb er sich das Gesicht. Der Gedanke war verlockend. Wenn er genug Geld bekäme, wäre er imstande, die Gyonnese weit hinter sich zu lassen. Und schließlich war es nicht so, dass er irgendein Gesetz gebrochen hätte.
Und es war auch nicht so, dass sie ihn im Voraus bezahlt hätten. Er hatte noch nichts von ihrem Geld gesehen. Aber er hatte oft genug für sie gearbeitet, hatte ihnen diverse Sammlerstücke und Raritäten beschafft, um zu wissen, dass sie ihn in dem Moment bezahlen würden, in dem er lieferte.
Theoretisch war er gemäß der Gesetze der Allianz unbelastet.
Abgesehen davon, dass er eine Bürgerin der Allianz entführt hatte und sie gegen Geld feilbieten wollte, als wäre sie eine Art Sklavin.
Er errötete heftig.
Im Moment könnte er immer noch behaupten, er hätte sie nicht entführt, sondern lediglich zu den Gyonnese geflogen, weil er sie für einen Flüchtling gehalten und gehofft hätte, er könne einen ersten Schritt in die Welt der Kopfgeldjäger tun.
Das war von Anfang an seine Ausrede für den Fall gewesen, dass ihn die Obrigkeit des Valhalla Basins aufgehalten hätte oder dass ihn ein Allianzbulle – zur falschen Zeit am fälschen Ort – aufspüren sollte.
Würde er sie aber tatsächlich gegen Geld feilbieten, würden diese Ausreden nichts mehr nützen, nicht einmal vor dem nachsichtigsten Richtergremium. Dann würde er seihst zum Flüchtling werden.
Er sah sich über die Schulter um. Der Avatar wusch Rhonda Shindos Gesicht. Das bedeutete, er war beinahe fertig mit der Behandlung.
Bald würde Yu die Abschirmung aufheben müssen.
Er seufzte. Er hatte einen gewissen Respekt ihr gegenüber entwickelt. Sie hatte seinen Partner umgebracht – nicht, dass es ihm viel ausgemacht hätte, nicht, dass Nafti wirklich ein Partner gewesen wäre. Womöglich hätte er Nafti sogar selbst getötet, wenn nicht auf dieser Reise, dann auf irgendeiner anderen. Nafti war mehr und mehr zu einer Belastung für ihn geworden.
Dann hatte sie Yu angegriffen. Wäre sie nur ein bisschen stärker oder auch nur ein bisschen erfahrener auf dem Gebiet des Kampfes, so hätte sie das Schiff womöglich tatsächlich übernommen.
Und ihn vielleicht getötet.
Was er respektieren konnte. Als er von den Gyonnese zum ersten Mal von ihr gehört hatte, hatte er sich vorgestellt, sie wäre eine dieser seelenlosen Personen, die es nicht kümmerte, aus der Ferne zu morden.
Aber ihre Tochter hatte nichts davon gewusst – ihre geklonte Tochter, die geglaubt hatte, sie wäre das erste Kind. Leute, die seelenlos waren, luden sich keinen Klon auf und behandelten ihn wie ein echtes Kind. Diese Leute behandelten Klone wie Stiefkinder, wie Imitationen seltener Antiquitäten. Bekamen sie eine Schramme, so war das nicht sonderlich wichtig, schließlich waren sie von Beginn an nicht wirklich von Wert gewesen.
Aber Talia Shindo fühlte sich geliebt, und als ihre Mutter nach Hause gekommen war und erkannt hatte, was vor sich ging, hatte ihr erster Gedanke ihrer geklonten Tochter gegolten.
Die sie wie eine richtige Tochter behandelte.
Und vielleicht sogar liebte.
Und dann war da der Schmerz in Rhonda Shindos Augen gewesen, als er die Gyonnese erwähnt hatte. Nicht der Schmerz eines Menschen, der eine Niederlage gegenüber einer Gruppe erlitten hatte, die er im Inneren ablehnte, sondern der Schmerz eines Menschen, der eine einmal getroffene Entscheidung bedauerte.
Den Gerichtsakten zufolge hatte sie das Urteil nicht angefochten. Ihre Anwälte hatten versucht, die kulturellen Unterschiede herauszustreichen – dass Rhonda Shindo nicht allein für die Tragödie
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