Miles Flint 06 - Kallisto
Bestatter ihm Emmeline zum letzten Mal aus den Armen genommen und ihren kleinen Körper in den Recycler gelegt hatte, wo aus ihrem Leichnam Wasser, Nährstoffe und Dünger für die Pflanzen entstehen sollten, die in den Gewächshäusern außerhalb der Kuppel gezüchtet wurden.
Flint hatte darauf bestanden, dass ihre Überreste nur für Blumen verwendet werden sollten – die Vorstellung, sie könnte als Dünger für Nahrungsmittel enden, war ihm verhasst –, und er hatte die entsprechenden Dokumente unterzeichnet, die höheren Gebühren bezahlt. Und manchmal fand er Trost in dem Gedanken, dass sie, und sei es nur für kurze Zeit, jemandem ein Stück Schönheit gespendet hatte, ein bisschen Freude.
Nun jedoch, nun zitterte er am ganzen Leib.
Er versuchte, sich Palomas Worte ins Gedächtnis zu rufen – Emmeline ist tot –, doch dann verweigerte er sich der Stimme seiner Erinnerung. Paloma hatte ihn belogen. Paloma hatte ihn viele Male hinters Licht geführt.
Seit ihrem Tod hatte er sich mit ihren Lügen und Betrügereien auseinandersetzen müssen. Nun war ein weiterer Punkt hinzugekommen.
Diese Datei über Emmeline.
Die vielleicht nichts zu bedeuten hatte. Vielleicht war sie auch einmal als Druckmittel angelegt worden, um ihn unter Kontrolle zu halten. Paloma hätte eine solche Datei problemlos zusammenstellen können. Reproduktionsunternehmen schufen häufig derartige Kaleidoskope einer möglichen Zukunft für potentielle Kunden, die daran dachten, ein Kind klonen zu lassen, das sie verloren hatten.
Er und Rhonda hatten sich gegen diese Möglichkeit entschieden. Emmeline war ein Individuum gewesen. Selbst wenn man ihre Zellen wiederbelebt hätte, und ein anderes Kind mit ihrem Gesicht auf die Welt gekommen wäre, wäre dieses Kind nicht sie gewesen. Es hätte subtile Unterschiede geben können wie bei eineiigen Zwillingen, es hätte auch große Unterschiede geben können, hervorgerufen durch eine andere Art des Aufwachsens.
Und, so hatte er argumentiert, es wäre nicht fair gegenüber dem Kind, würde es als Ersatz für ein verlorenes Kind reproduziert werden, ein verlorenes Kind, das vielleicht zum Inbild der Perfektion hätte werden können, weil es durch seinen Verlust zu einem Teil der elterlichen Fantasie geworden war.
Rhonda hatte ihm zugestimmt. Ihre Scheidung hatte andere Gründe, wenngleich das auslösende Moment der Tod Emmelines gewesen war.
Er starrte das letzte Bild der Emmeline an, die es nie gegeben hatte. Es fiel ihm schwer, sich Emmeline herangewachsen vorzustellen. Sie wäre jetzt beinahe sechzehn, mehr eine junge Frau als ein Kind, und wenn alles so gelaufen wäre, wie Rhonda und er es einmal geplant hatten, dann hätte Emmeline ein oder zwei Geschwister, die ihr Gesellschaft leisten würden.
Die sie ärgern und umarmen würden, ihr das Gefühl geben würden, die maßgebliche, die große Schwester zu sein.
Er setzte sich wieder. Dass er und Rhonda sich dagegen entschieden hatten, eine zweite Emmeline in die Welt zu setzen, bedeutete nicht, dass Rhonda nicht doch eine jener Reproduktionsfirmen aufgesucht hatte, eines der Unternehmen, die ein imaginiertes Leben für ein beendetes schufen. Keinen Klon, nur ein imaginäres Wesen.
Angeblich linderten diese Unternehmen den Kummer der Menschen. Angeblich ersetzte die Fiktion die Realität, vertrieb die Leere in der Zukunft.
Flints Zukunft jener Zeit war nicht leer gewesen. Sein Leben war durch Emmelines Tod vermutlich sogar interessanter geworden. Niemand hätte ahnen können, dass er einmal hier oben landen würde.
Aber sein Leben war von Einsamkeit geprägt. Er hatte nie wieder geheiratet, hatte sich nie wieder verliebt. Er war nur selten mit Frauen ausgegangen, und nach einer Weile hatte er es ganz sein lassen.
Er hatte einige wenige Freunde, von denen noch weniger enge Freunde waren.
Nun, da Paloma tot war – und sie war eigentlich gar keine wahre Freundin gewesen –, war da nur noch Noelle DeRicci, Leiterin der Mondsicherheitsbehörde und seine ehemalige Partnerin im Polizeidienst.
In den letzten paar Monaten hatte er sich immer weiter aus dieser Freundschaft zurückgezogen, hatte sich entschieden, Palomas Mahnungen zu folgen, die besagten, dass Lokalisierungsspezialisten keine engen Beziehungen haben durften, dass solche Beziehungen zu seinem Schaden missbraucht werden konnten.
War es das, was die Datei enthielt? Etwas, das sich gegen ihn benutzen ließ?
Ihre bloße Existenz reichte jedenfalls vollkommen aus, ihn aus der
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