Militärmusik - Roman
nicht geglaubt, dass sie käme. Doch kurz vor sechs Uhr stand eine Frau auf dem Bahnsteig. Sie hielt einen Papierkorb mit ihren Sachen in der Hand und lächelte uns zahnlos an. Der Zug fuhr los. Vom ersten Tag unserer Reise an zeigte sich Daima von ihrer besten Seite. Selbstbewusst stand sie frühmorgens auf und kümmerte sich den ganzen Tag um die Rinder. Zu unserem Aufgabenbereich zählte die Beschaffung von Proviant und Wasser sowie die Gestaltung des Abendprogramms.
Je weiter wir uns von Lettland entfernten, umso komplizierter wurden die Lebensmittelbeschaffungsmaßnahmen. Die Weißrussen wollten uns nichts verkaufen, wir standen am Rande der Hungersnot. Unserem Nachbarn Aram ging es im Gegensatz zu uns ganz ausgezeichnet. Immer etwas aufgeregt, hatte er sich zwischen den Blechkannen eingenistet und sang armenische Lieder. Nachts verschwand er oft für eine Weile, wenn der Zug mal wieder stand, und kam erst zwei, drei Stunden später wieder. Einmal untersuchten wir in seiner Abwesenheit den Inhalt der Blechkannen. Die Flüssigkeit, die sie enthielten, war zweifelsohne Spiritus. Denaturiert nach altrussischem Rezept. Als Aram zurückkam, schlossen wir mit ihm einen Pakt. Entweder wir alle oder gar keiner, sagten wir ihm, und er hatte nichts dagegen. Das war unsere Rettung, denn für den Spiritus konnte man alles bekommen. Weißrussland, Ukraine, die Landschaften rasten an uns vorbei und lösten sich am Horizont auf. Wir saßen oft auf Arams Plattform und tranken mit ihm zusammen aus einer Blechtasse. Je mehr wir tranken, desto schneller fuhr der Zug.
Am Ende der ersten Woche kamen wir in ein Berggebiet und fuhren langsamer. Unsere Reiseroute führte uns durch ein Tal in der Nähe des Berges Ararat, genau zwischen Armenien und Aserbaidschan. Der Zug bewegte sich kaum noch, wir saßen mit Aram auf der Plattform und tranken Spiritus mit Wasser. Die Sonne schien, um uns herum weideten Ziegen, ein aserbaidschanischer Hirtenjunge hütete die Herde. Daima trug das Heu zu den Rindern.
Plötzlich brach in dieser Idylle ein nationalistischer Konflikt aus. Der junge Hirte erblickte Aram und schrie: »Armenien-Arschficker, Armenien-Arschficker!«
»Aserbaidschaner-Schwanzlutscher!«, rief der angetrunkene Aram zurück.
Dann flog der erste Stein. Der zweite traf die Blechtasse, die ich in der Hand hielt, der dritte streifte Arams Kopf. Er stand auf und griff sich seine Dienstwaffe.
»Aserbaidschaner! Sei bereit zu sterben!«, schrie er und schoss in den Himmel.
George und ich hängten uns an seine Hand. Wir entwaffneten den armenischen Patrioten und versteckten die Pistole an einem sicheren Ort. Unsere Rinder spielten verrückt.
Am nächsten Tag erreichte der Zug Baku. Hier wurden die Waggons auf eine Fähre umgeladen. Der ausgeschlafene Aram stieg aus und ging entschlossen zum Bahnhofsaufseher.
»Sag mir, mein Freund, bist du Aserbaidschaner?«, fragte ihn Aram mit pathetischer Stimme.
»Ja, ich bin Aserbaidschaner«, antwortete der Bahnhofsaufseher. »Deine Stunde ist gekommen«, rief Aram aus und knallte dem friedlichen Beamten eine.
Darauf wurde er von mehreren Bahnhofsangestellten anständig zusammengeschlagen.
Die Steppen von Kasachstan konnten einen richtig verrückt machen. Ob Tag oder Nacht, auf beiden Seiten der Geleise eine leblose Leere, so weit das Auge reichte. Nur die Zieselmäuse versammelten sich entlang des Bahndamms und winkten uns mit ihren kurzen Pfötchen hinterher. Das Heu war fast aufgebraucht, und auch wir begannen wieder zu hungern. Es schien, als wäre alles in dieser Gegend einschließlich der Lebensmittel vergiftet. An einem Bahnhof gelang es uns, eine Kiste Bier zu kaufen. Die Flaschen warfen wir unausgetrunken nach und nach weg. Sie waren mindestens zwei Jahre überlagert. Am nächsten Haltepunkt war es eine Kiste mit Melonen. Daraus entwickelte sich eine Durchfallepidemie, die sich erstaunlicherweise von uns auf die Rinder übertrug. Selbst Daima wollte sich krankmelden. Nur Aram blieb wegen seines Alkoholkonsums gegen alle Bakterien der Welt immun. Er hänselte uns und nannte uns »Scheißhirten auf Reisen«.
Mein Freund George dachte sich laufend neue Geschäftsideen aus, die unsere Überlebenschancen erhöhen sollten. Sein Versuch, ein Rind zu schlachten, schlug entsetzlich fehl. Ein weiterer Versuch, das schon halb tote Rind an Einheimische zu verscheuern, scheiterte ebenso. Die Kasachen waren nun wirklich ganz anders als wir. Sie tranken nicht, aßen nicht und sahen einem beim
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