Militärmusik - Roman
fast zu meinem Alltag wurden, wirkten auf mich sehr deprimierend.
Dazu kam noch ein anderes Problem: Nach einem Monat musste ich feststellen, dass der Park, in dem ich als Gärtner tätig war, zu einer geheimen Waffenfabrik gehörte. Sie produzierte nicht nur Kinderwagen und Fahrräder, sondern auch U-Boote. Obwohl der Park als fünfter Bereich dieser Fabrik so gut wie keine Sicherheitsstufe hatte, galt für den Betrieb selbst Sicherheitsstufe drei. Das hieß für mich im Klartext, dass ich mein Gehalt aus der Buchhaltung nicht selbst abholen konnte. Der Hauptgärtner musste es mir rausbringen, aber dessen Stelle war nicht besetzt. Telefonieren durfte ich mit der Buchhaltung auch nicht, nur mit dem Leiter der Personalabteilung. Er hätte mich weitervermitteln können, wollte aber nicht. Deswegen bekam ich nur einen Abrechnungszettel per Post, aber kein Geld.
Dieser Job machte mich unglücklich, und ich überlegte schon, ob ich zu Georg aufs Land ziehen sollte. Die roten Flecken auf der Karte wurden mir immer sympathischer. Ich wusste jedoch nicht genau, wo er war. Und dann kam der 19. Juli, mein Geburtstag. Es war sehr heiß in der Stadt, ich lief in einer miserablen Laune durch den Park und mit der festen Absicht, irgendwas an meinem Arbeitsplatz zu klauen. Aber was kann man in einem Park stehlen? Die Bänke? Das Gras? Ich konzentrierte mich auf die Geräusche. Im Park war ständig Musik zu hören. Sie kam wahrscheinlich aus einem Lautsprecher. Den könnte man mit Glück verscheuern, und ich wusste sogar schon, an wen. Nach zwei Stunden Suche hatte ich die Musikquelle geortet. Das Ding hing an einer Säule in zehn Metern Höhe und war mit Stacheldraht befestigt. Ich verfluchte den Park und jeden einzelnen Baum.
Abends, zu Hause, wartete eine Glückwunschpostkarte auf mich. Sie war von Georg. Auf der Postkarte lächelte mir eine scheußliche Fratze mit ausgestreckter Zunge zu. Darunter stand: »Der Laden brummt, die Weiber stöhnen. George.« Und die Adresse: Dorf Borodino, Gebiet Jaroslawski, Bezirk Sotino. Die ganze Nacht konnte ich nicht ruhig schlafen. Die Weiber, die Georg erwähnt hatte, waren der letzte Anstoß. Sie lockten mich aufs Land. Schluss mit der Kleinmütigkeit.
Um sieben Uhr morgens stand ich auf, lief zum Park, kletterte die zehn Meter hohe Säule hoch und knotete mit bloßen Händen den Lautsprecher los. Zwei Stunden später tauschte ich ihn bei einem Bekannten, der Musiker war, gegen zwei Stangen Zigaretten und etwas Proviant. Dann fuhr ich mit dem N 690er Bus in die Vorstadt, um von dort mit dem erstbesten Lkw in Richtung Dorf Borodino zu verschwinden. Tschüss, Moskau, ich genieße das Dorfleben.
Als erfahrener Tramper mied ich kleine Autos. Der erste große Laster, der Richtung Jaroslaw fuhr, nahm mich mit. An dem Kraftfahrer war nur die Badehose echt, alle anderen Kleidungsstücke – auf seine Haut tätowiert. Zufällig kam er von dem geheimen Betrieb, in dessen Park ich als Gärtner tätig gewesen war. Vielleicht hatte er sogar irgendwelche U-Boot-Teile hinten drauf. Wir unterhielten uns wie zwei Kollegen über eine neuerliche Eskalation des Kalten Krieges. Immerhin gehörten wir derselben Branche »Waffenindustrie« an.
Abends erreichte ich Sotino. Hätte es einen Wettbewerb um die kleinste Kleinstadt Russlands gegeben, hätte Sotino bestimmt den ersten Platz gewonnen: Es war nicht klein, es war lächerlich. Ratlos stand ich auf dem Leninplatz unter dem Lenindenkmal zwischen der Klinik und der Schule und suchte einen noch nicht schlafenden Bewohner, der mir den Weg nach Borodino zeigen konnte.
Die Stadt war bereits abends um acht wie ausgestorben. Alle Häuser dunkel, die Straßen leer. Ich wurde unruhig, denn ich wollte mich nicht mit wildfremden Bären und Wölfen anlegen – immerhin gab es rund um Sotino große Wälder. Ich sah mich nach einer möglichen Bleibe für die Nacht um. Zwischen der Klinik und der Schule entschied ich mich für die Letztere, denn es waren gerade Ferien und daher keine Schüler zu erwarten. Ich kletterte über den Zaun und fand einen passenden Platz in einem Sportraum im ersten Stock. Besser konnte es nicht kommen.
Am nächsten Morgen, als ich ausgeschlafen wieder auf dem Leninplatz auftauchte, sah ich eine Menge Leute, die vor einem Schnapsladen, den ich in der Dunkelheit übersehen hatte, Schlange standen. Der letzte Mann in der Schlange, den ich nach dem Weg nach Borodino fragte, kannte sogar meinen Freund Georg. »Ja, der Kleine, mit Brille und
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