Militärmusik - Roman
dieses Jahr hatten wir uns meinetwegen verspätet. Ich hatte mich in ein junges Mädchen aus Kiew verliebt, das eine Weile in Moskau gewohnt hatte und kurz davor war, nach Kiew zurückzufahren, als wir uns kennen lernten. Katzman, der sie schon etwas länger kannte, meinte: »Pass auf, diese Angela ist nett, aber sie hat Läuse.« Ich hatte mir jedoch eingebildet, unsterblich in sie verliebt zu sein, und begleitete sie deswegen per Anhalter die halbe Strecke nach Kiew, anschließend fuhr ich alleine wieder zurück.
Das Mädchen hatte lange, dicke, blonde Haare, ich lange, dicke, schwarze. Wir küssten uns unterwegs, ihre Läuse kletterten zu mir herüber. Als ich nach Moskau zurückkam, waren es schon sehr viele. Ich wollte meine langen, dicken Haare auf keinen Fall abschneiden, wusste jedoch nicht, wie ich diese Viecher sonst wieder loswerden könnte. Also ging ich zu meiner Mutter, die sehr kreativ war, eine viel größere Lebenserfahrung besaß und mir bestimmt helfen konnte. Meine Mutter suchte sich ein paar Läuse von meinem Kopf, holte ein Vergrößerungsglas aus ihrem Schreibtisch und betrachtete sie erst einmal genau.
»Das sind keine Läuse«, sagte sie nach einer Weile entschieden. »Auf jeden Fall nicht solche, wie ich sie kenne. Damals in Samarkand, als wir 1941 aus Moskau evakuiert wurden, hatten alle Kinder Läuse. Doch unsere waren viel, viel kleiner. Und auch nicht so dick, nicht so schnell. Außerdem hatten unsere Läuse nur vier Beine. Diese hier haben sechs.«
»Das sind eben andere Läuse, Mama«, sagte ich. »Eure damals waren Läuse der Armut, des Hungers und der Vertreibung, die über geschwächte Menschen herfielen. Diese hier, das sind die Läuse der Freiheit!« Dann ging ich zur Apotheke.
»Was haben Sie gegen Läuse?«, fragte ich eine nette junge Verkäuferin hinter der Theke.
»Wir haben zwei Sorten Hundeseife und ein Hundeshampoo für ganz junge Tiere. Wie alt ist Ihr Hund denn?«, fragte sie mich.
»Bald achtzehn«, sagte ich und wurde rot. »Ein ganz alter Hund. Er braucht besondere Pflege. Ich nehme am besten beides.«
Sie guckte mich neugierig an und hatte wahrscheinlich begriffen, dass ich der Hund war. Zu Hause seifte ich meinen Kopf mit beiden Seifensorten ein, goss noch das Hundeshampoo oben drauf und ein wenig Benzin. Letzteres auf Empfehlung meines Freundes Katzman. Danach zog ich eine Plastiktüte über den Kopf und lief so 24 Stunden in der Wohnung herum. Meine Mutter machte ständig Witze über mich. Sie sagte, dass meine Läuse in einer solchen Situation gar keinen Fluchtweg hätten und bestimmt versuchen würden, in mein Gehirn einzudringen. Ich fand das alles überhaupt nicht komisch. Mein Vater hatte nichts bemerkt. Er war zu sehr mit den neuen Ideen beschäftigt und dachte über »Business« nach. Er entwickelte große Pläne und wollte dringend mit dem Bau einer Datscha anfangen, bevor es zu spät war. Es war aber schon zu spät, wie sich dann herausstellte.
Nach meiner Entlausung fuhren Katzman und ich dann doch noch nach Gauja in die lettische Republik. Zwei Sommerreiserouten waren damals bei den Jugendlichen besonders beliebt: runter zum Schwarzen Meer oder hoch zum Baltischen Meer. Diejenigen, die auf Abenteuer scharf waren, zelteten auf der Halbinsel Krim in der Nähe des Städtchens Gursuf. Der mündliche Reiseführer versprach dort Lebensgefahren aller Art: Schlägereien mit der Polizei, Verfolgung durch besoffene, bewaffnete Ureinwohner, lebensgefährlich Bergwanderungen, ansteckende Krankheiten und das vollkommene Fehlen von Lebensmitteln.
Die anderen, die Ruhe suchen und sich vom Stadtleben erholen sowie neue Freunde und neue Drogen kennen lernen wollten, fuhren in Richtung Baltisches Meer nach Lettland. Dort, etwa vierzig Kilometer von Riga entfernt in der Nähe des Dorfes Lilaste, befand sich an einem geheimen Ort im Fichtenwald versteckt der größte Indianerzeltplatz der Sowjetunion. Jedes Jahr entstand das Lager an einem anderem Ort, aber immer in diesem Wald, nahe des Flusses Gauja. Die lettische Republik hatte zwei große Flüsse: die kurze und breite Daugava und die flache, enge, manchmal fast gar nicht als Fluss erkennbare Gauja, die jedoch durch die ganze Republik floss.
Die aktuelle Adresse des Lagers konnte man in einem Eiscafé in Riga namens »Near Bird« erfahren. Das Café hatte seinen Namen einem vor dem Eingang stehenden Denkmal zu verdanken, einer aus Beton geformten Möwe, die wie ein verunglücktes Flugzeug aussah. »Near
Weitere Kostenlose Bücher