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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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Bird«, was auf Russisch wie »Am Arsch vorbei« klang, war der wichtigste Treffpunkt der Jugendlichen in der Stadt. Dort arbeitete Otto, ein langhaariger Doppelgänger von Iggy Pop. Er diente als Verbindungsmann, belieferte das Lager mit Kuchen- und Speiseeisresten und gab den Neuankömmlingen selbst gezeichnete Karten mit dem aktuellen Standort des Zeltplatzes. Aber natürlich nur dann, wenn die Referenzen stimmten.
    Katzman und ich hatten eine glückliche Fahrt; gleich mit dem ersten LKW schafften wir fast die halbe Strecke. Auch danach mussten wir nie länger als zehn Minuten an der Autobahn stehen. In der Nähe von Pskov trennten wir uns, und jeder trampte alleine weiter. Wir hatten nämlich eine Wette abgeschlossen, und wer als Erster im »Near Bird« ankam, hatte gewonnen. Katzman hatte mehr Glück als ich: Er erwischte einen Laster, der ihn praktisch bis vor die Tür der Kneipe fuhr. Ich kam erst zwei Stunden später an. Wir bekamen von Otto, den wir bereits gut kannten, eine Karte und einen Sack voller Süßigkeiten für das Lager. Mit dem Zug fuhren wir weiter Richtung Lilaste, um dort für weitere drei Monate im Wald unterzutauchen und ein freies Leben in natürlicher Umgebung zu führen. Im Zug lernten wir zwei Mädchen kennen, die mit ihren zwei großen Hunden ebenfalls zum Zeltplatz wollten. Die Hunde hießen Yoko und Janis. Wie die Mädchen hießen, ist mir nicht in Erinnerung geblieben.
    Lilaste war eine sehr kleine Siedlung: fünf Häuser, ein Lebensmittelladen und ein paar Schweine, die sich in einer Pfütze suhlten. Eine Holzbank mit einem Schild, auf dem logischerweise »Lilaste« stand, diente als Bahnhof.
    Auf der Bank saß ein merkwürdiges Paar: eine Dame in blauem Kleid, zusammen mit ihrem Mann, der trotz des heißen Sommerwetters in einem Anzug schwitzte. Zwei große schwarze Koffer standen neben ihnen. Es waren bestimmt keine Touristen. Sie warfen ab und zu verzweifelte Blicke um sich und gaben so das Signal: »Menschen in Not! Helft uns! Wir wissen nicht weiter!« Wir kamen ins Gespräch. Es waren Eltern, die auf der Suche nach ihrer von zu Hause abgehauenen Tochter waren. Sie hatten das ganze Land durchfahren und es fast geschafft, sich nun aber im Wald verlaufen. Seit zwei Tagen saßen sie bereits auf der Bank. Die Einheimischen, die nur lettisch sprachen, konnten ihnen nicht weiterhelfen, hatten ihnen aber regelmäßig Wasser und Brot an die Bank gebracht. Wir nahmen uns der verzweifelten Eltern an und versprachen ihnen, ihre Tochter Katja zu finden.
    Nach zwei Kilometern durch den Wald, bergauf, bergab, erreichten wir unser Ziel. Hunderte von Zelten standen im Wald. Genau genommen waren es drei verschiedene Camps, die nebeneinander lagen und eine komplizierte Beziehung untereinander unterhielten. In dem ersten Lager lebten die sogenannten Idos – junge Menschen, die einer bestimmten Idee verfallen waren; also Krischna-Anhänger, Buddhisten, einige Satanisten und andere »Religionsfanatiker«. Die Idos waren harmlos, aber im Gespräch kaum erträglich. Sie hatten nämlich immer nur ein Thema: »Ich war ein schlechter Mensch und bin jetzt ein guter. Das alles habe ich einer Erleuchtung zu verdanken, die ich dir mitteilen möchte.« Diese an sich recht unterschiedlichen Menschen, die alle früher so schlecht und nun so gut geworden waren, hatten den ganzen Tag zu tun, jeder auf seiner Art. Der eine mit Musik und Gesang, die andere mit Feuer und Tanz, und dabei kommunizierten sie ständig mit ihren Göttern. Die Idos-Kommune war der lauteste Teil des Zeltplatzes.
    Im zweiten Lager herrschte dagegen Stille. Tagsüber sah man nur Zelte, keine Menschenseele weit und breit. Es wurde nicht gekocht, es gab keinen großen gemeinsamen Lagerfeuerplatz, und es roch nach Medikamenten. Dort lebten die »Narks«, die Drogenfreaks, die in der Wildnis eine Art Vampirleben führten. Tagsüber verkrochen sie sich in ihren Zelten oder im Wald und schliefen, aber nachts wurden sie aktiv und gingen auf Jagd. Man muss dazu sagen, dass die lettische Republik immer schon ein anziehender Ort für alle Drogenfanatiker in der Sowjetunion gewesen war, weil die lettischen Bauern auf ihren Grundstücken eine Pflanze kultivierten, für die ihre russischen und weißrussischen Kollegen nichts übrig hatten. Die Letten besaßen Mohnplantagen. Die nationale Küche benutzt dort oft und gerne Mohnkörner – im Brot, im Käse, in der Wurst, in der Suppe und sogar in der Marmelade sind sie zu finden. Die Drogenfanatiker

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