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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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Baracke war ein Schlafraum mit zwanzig Betten, die in der Mitte zusammengestellt waren. Von den Wänden durchbohrten uns die vier letzten Generalsekretäre der KPDSU mit Blicken: Andropow ernst und böse, Breschnew müde und frustriert, Tschernenko freundlich und abwesend, Gorbatschow wie der Weihnachtsmann mit einer dicken Überraschung hinter dem Rücken. In einer Ecke stand ein Fernseher, in einer anderen ein zwei Meter großes Gerät aus Holz, das einer kaputten Schaukel ähnlich sah. Wir stellten uns in Reih und Glied auf.
    »Ein großer Tag in eurem Leben ist gekommen – der erste Tag in der sowjetischen Armee. Zieht eure Klamotten aus, ihr kriegt eine Uniform. Die Klamotten könnt ihr in Pakete packen und nach Hause schicken oder einfach auf den Hof werfen, dann werden sie verbrannt.« Hinter diesem freundlichen Angebot erkannte ich eine Falle. Durch viele Begegnungen mit Polizisten und KGBisten wusste ich, dass die Uniformierten sich gerne gutmütig und großzügig gaben, um ihre Opfer zu überrumpeln. In einer solchen Situation musste man sich immer für die schlechtere Variante entscheiden. Zusammen mit zwei anderen Rekruten beschloss ich also, meine Zivilkleidung zu verbrennen. Und das war gut so. Denn alle anderen, die ihre Sachen unbedingt nach Hause schicken wollten, rannten eine Stunde später halbnackt auf der Suche nach einer Poststelle draußen herum und wurden von den Altgedienten ausgelacht.
    Wir drei, Andrej, Grischa und ich, saßen stattdessen in schönen neuen Uniformen in der Kantine und genossen das Frühstück. Es gab Weißbrot, dazu eine Menge Formbutter-Stückchen und einen Eimer voll Kartoffelpüree. Im warmen Püree schwamm irgendetwas herum. Zuerst dachten wir, es sei Fleisch und versuchten das Stück herauszulöffeln. Aber dieses »Fleisch« bewegte sich im Püree hin und her, tauchte unter und verursachte dabei Luftblasen an der Oberfläche. »Es lebt«, sagte Andrej erstaunt. »Was kann in einem gerade gekochten Kartoffelpüree überleben?« Wir wussten es nicht. Den Koch zu fragen, war uns zu einfach. Wir wollten alles selbst rauskriegen – aus eigener Armee-Erfahrung. Um uns dann vielleicht eines Tages hier im Wald so sicher zu fühlen wie dieses Vieh im Kartoffelpüree. Wir wollten über alles Bescheid wissen, echte Soldaten sein.
    ***
    Langsam erfuhren wir erste Einzelheiten. Wir befanden uns im so genannten Dritten Abwehrring des Moskauer Verteidigungskreises. Unsere Einheit bestand aus drei Raketen, einem Radargerät, dreißig Soldaten und vier Offizieren. Das Ganze nannte sich »Belka Raketenkomplex« und diente zum Abschießen tief fliegender Ziele, genauer gesagt eines einzigen Ziels – sei es ein Bomber oder eine Rakete. Der Belka-Komplex funktionierte ziemlich einfach. Wenn auf dem Radarschirm ein Ziel erschiene, müssten wir es mit unseren drei Raketen abschießen, die auf LKWs montiert etwa fünf Kilometer entfernt um uns herum im Wald standen. Eine würde von links, eine von rechts und eine zur Sicherheit aus der Mitte losgehen. Was danach geschähe, sollte uns egal sein, denn die Lebensdauer unseres Komplexes im Falle eines Angriffes betrüge exakt dreizehn Sekunden. Ob wir das Ziel trafen oder nicht, wir würden auf jeden Fall mit draufgehen, das war der Nachteil bei der Beseitigung zu tief fliegender Ziele. Der Vorteil dieses Dienstes war, dass es praktisch keine fliegenden Ziele gab, nicht einmal Vögel. Sie mieden unser Radargerät weiträumig, wegen seiner Ausstrahlung hoher Frequenzen.
    Der Himmel schien glasklar zu sein. Aber alle Soldaten befanden sich im Kriegsdienst, wie bei der Grenzkontrolle. Sie schoben pausenlos Wache und nichts durfte sie vom Starren auf den Radarschirm ablenken. Alle anderen Tätigkeiten waren verboten. Außer Schlaf und Ernährung. Man durfte auf keinen Fall länger als zwölf Stunden vor dem Radarschirm sitzen. Sonst bekam man Krämpfe und brachte dadurch die Sicherheit der Hauptstadt in Gefahr. Die meisten Soldaten stammten aus Moskau oder anderen Großstädten Russlands, es waren keine Bauern, sondern eher Punker und Heavy-Metal-Fans, also ein intelligentes Publikum. Einige hatten wichtige Eltern. Da gab es zum Beispiel die beiden Zwillinge des sowjetischen Botschafters in Kolumbien, den Sohn des berühmten Fliegers, des doppelten Helden der Sowjetunion Arkadij Choroschko und reichlich Nachwuchs von anderen Helden. Anscheinend hatte mein Vater damals doch noch die richtigen Gesprächspartner gefunden.
    Unsere Einheit teilte sich

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