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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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Armee ist deine einzige Chance, in die Kommunistische Partei reinzukommen, zeig dich als guter Soldat«, riet mir mein Vater.
    »Nicht du gehst zur Fahne, sondern die Fahne kommt zu dir«, klärte der Bezirkskommissar Katzman auf.
    »Die Armee ist keine Beschäftigung, sie ist eine Geschlechtsorientierung«, meinte mein Nachbar, der Ex-Offizier. »Sie wird aus dir einen echten Mann schmieden, du wirst von den Mädels geliebt werden.«
    »Du wirst dort täglich in den Arsch gefickt«, meinte mein Freund Katzman dazu.
    Diese Diskussion brach im Winter 1986 unerwartet aus. Weder ich noch Katzman hatten vorgehabt, jemals zur Armee zu gehen, wir hatten uns alle dafür nötigen Aufschubbescheinigungen längst besorgt. Doch im Jahre 1986 änderte sich unsere Lebenssituation schlagartig. Immer mehr wurden wir von Birkenmännern verfolgt. Fast alle jungen KGB-Praktikanten aus der Abteilung zur Jugendverfolgung trugen aus unerfindlichen Gründen hellgraue Anzüge und Mäntel, die ständig vom Moskauer Matsch befleckt waren. Außerdem traten sie stets in Gruppen auf. Auf der Straße sahen diese Leute deswegen birkenartig aus, und so nannten wir sie Birkenmänner. Die in Zivil herumlaufenden Beamten konnte man auch daran erkennen, dass sie alle einen Abdruck von ihrer Mütze am Hinterkopf hatten, da sie vor dem KGB jahrelang die Milizschule besucht hatten, in der das Tragen einer Mütze Pflicht gewesen war.
    Katzman und ich organisierten damals noch immer jeden Monat Undergroundkonzerte mit dreißig bis vierzig Jugendlichen und ein paar Musikern in einer Wohnung. So eine Party allein bedeutete noch keinen Gesetzesbruch. Aber wir kassierten Eintritt und zahlten die Musiker aus. Das war eine illegale Geldbeschaffungsmaßnahme und schlimmer als klauen. Das grausame Schicksal eines unserer Vorbilder, des Gitarristen Sapunov, der für den Auftritt seiner Band eigenhändig Geld kassiert hatte und dafür fünf Jahre in den Knast musste, schreckte uns nicht. Erstens waren wir noch zu jung und leichtsinnig, um richtig Angst zu haben, zweitens wurden solche Straftaten gerade neu bewertet. Immerhin lebten wir in der Zeit der Perestroika. Ein Freund von mir, der 1984 mit einer Streichholzschachtel voller Gras auf der Straße erwischt worden war, hatte dafür glatt fünf Jahre Knast bekommen, ein anderer Freund wenig später für dieselbe Straftat nur zwei Jahre auf Bewährung. 1986 wurden viele Paragraphen im Strafgesetzbuch geändert und ihr Inhalt abgemildert. So bekam man zum Beispiel für die zwischenmännliche Liebe laut Paragraph 121 nur noch lausige anderthalb Jahre statt wie bisher zehn.
    Voller Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft machten wir also mit den Konzerten weiter. Aber auch die Birkenmänner mischten sich nach wie vor unter unser Publikum und versuchten, uns bei der Geldübergabe zu erwischen. Wir erkannten sie aber und kassierten einfach keinen Eintritt. Doch auf Dauer wurde dieses Katz-und-Maus-Spiel zu anstrengend. Unsere Lieblingsbeschäftigung wurde unter solchen Umständen zur Last, Katzman litt bereits unter Verfolgungswahn und traute sich bei Tageslicht nicht mehr aus dem Haus. Außerdem hatten wir zufällig einige politisch unkorrekte Veranstaltungen organisiert, unter anderem den verfluchten Todestag von John Lennon, den wir draußen gefeiert und der sich schnell in eine Schlägerei mit den Birkenmännern und einigen anderen seltsamen Straßengestalten verwandelt hatte, darunter ein alter Mann, der zufällig mit eine Kettensäge vorbeigekommen war. Das war eigentlich das Ende. Wir wurden von der Staatsmacht vor die Wahl gestellt: Entweder wir gingen freiwillig zur Armee oder wir gingen unfreiwillig hin.
    Verzweifelt schlug mein Freund Katzman eine radikale Lösung, die Selbstverstümmelung, vor. Ich war eher für eine mildere Variante und suchte im Medizinbuch danach. Unser erster Versuch, mit Hilfe eines Teelöffels, eines Kopfkissens und eines Joints eine Gehirnerschütterung zu simulieren, schlug fehl. Obwohl wir beide genauso aussahen, wie es über gehirnerschütterte Menschen im Buche stand, wurden wir von den Ärzten in der Notaufnahme ausgelacht. Es war der 15. Dezember, noch zwei Wochen bis zum Ende der Wintereinberufung, und das Krankenhaus war rappelvoll mit verzweifelten Jungs. In jener Nacht erfuhren wir dort die traurigste Verstümmelungsgeschichte, die in unserer Gegend jemals passiert ist.
    Auf dem Korridor bat uns ein Junge um eine Zigarette. Er sah sehr robust, aber auch traurig aus. Am

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