Militärmusik - Roman
nächsten Morgen sollte Vadim, so hieß er, aus dem Krankenhaus entlassen werden – zur Armee. »Ich kann es nicht fassen«, meinte er. Als frisch Verliebter konnte Vadim es sich einfach nicht leisten, seine Freundin, deren Herz er nach jahrelangem Anbeten endlich erobert hatte, für eine Ewigkeit wieder allein lassen zu müssen. Seine Freundin hatte ihm auch ganz ehrlich gesagt, dass sie für nichts garantieren könne, wenn er so lange wegbliebe. Vadim überlegte kurz und beschloss, sich den rechten Zeigefinger abzuhacken. Die Liebe fordert manchmal Opfer. Seine Freundin fand den Plan absolut heldenhaft und versprach, ihm bei der Ausführung zu helfen. Sie kannte einen dafür passenden Ort im Wald, in der Nähe der Datscha ihrer Eltern.
Sie fuhren zusammen hin, mit einer Flasche Wodka und einer Axt. Im Wald nahm Vadim zur Selbstermutigung einen großen Schluck, den letzten Rest Alkohol spritze er auf seine rechte Hand, dann legte er sie auf einen Klotz und hackte sich den Zeigefinger ab. Danach machte ihm seine Freundin einen liebevollen Verband, sie vergruben den Finger unter dem Klotz und gingen zur Datscha. Aber die Hand blutete immer stärker, irgendwann wurde Vadim ohnmächtig, und seine Freundin rief den Notarzt an. Zwei Stunden später kam Vadim im Krankenhaus wieder zu sich. Die Ärzte und die herbeigerufene Miliz unterzogen ihn einem Verhör. Sie wollten wissen, wo er seinen Finger gelassen hatte. Vadim schwieg wie ein Partisan in Gestapo-Haft. Danach wurde seine Freundin vernommen, und sie gab schließlich das Versteck preis. Der Rettungswagen fuhr noch einmal los, fand den Klotz, grub Vadims Finger aus und brachte ihn ins Krankenhaus.
Obwohl es eigentlich schon viel zu spät war, nähten die Zauberärzte den Finger wieder an. Nach drei Tagen sah Vadims Hand wieder wie neu aus. Doch der Finger schien nun länger als früher zu sein. Außerdem hatte der Fingernagel eine ganz andere Form. Vadim verdächtigte die Ärzte, unter dem falschen Klotz im falschen Wald fündig geworden zu sein. Doch seine Freundin, die mitgefahren war, versicherte ihm, dass sie an der richtigen Stelle gegraben hätten. Es hätte höchstens sein können, dass unter dem besagten Klotz mehrere Finger vergraben worden waren, immerhin war der Platz zum Fingerabhacken ideal. Vadim gelangte zu der Überzeugung, dass man ihm den Finger eines anderen Wehrdienstverweigerers verpasst hatte. Die Ärzte sagten zwar, dies wäre unmöglich, wegen der Blutgruppe und so weiter, trotzdem hatten sie in dem Kühlschrank eine ganze Tüte mit eingefrorenen Fingern versteckt. Wozu?
Vadims Wunde heilte so schnell, dass er durch die Selbstverstümmelung nicht einmal einen Aufschub des Militärdienstes erreicht hatte und nun einrücken musste. Wir wollten unseren neuen Freund wegen seiner haarsträubenden Geschichte schon auslachen, da zeigte er uns seinen Zeigefinger – und der war wirklich deutlich länger als die anderen. Er passte auch farblich irgendwie nicht. »Tolles Ding«, scherzte Katzman, um Vadim ein wenig aufzubauen. »Mit dem kannst du gut angeln gehen...« Aber Vadim war nicht zu Späßen aufgelegt und wir eigentlich auch nicht...
»Ich gehe zur Armee. Was soll's, schlimmer als bei Vadim kann es nicht kommen«, dachte ich und verkündete meinen Entschluss zu Hause.
»Ich komme mit«, erwiderte mein Vater sofort. »Ich lasse nicht zu, dass du in eine falsche Einheit gerätst und womöglich am Nordpol die Eisbären fütterst oder in Usbekistan an der afghanischen Grenze schmorst.«
Am 24. Dezember um 8.00 Uhr morgens betraten wir die Moskauer Meldestelle und wurden zusammen mit ein paar hundert anderen Jungs in der ersten Etage in einem großen Saal zusammengepfercht. Mein Vater hatte eine Aktentasche dabei, in der sich zwei große Flaschen Spiritus und 100 Gramm Konfekt zum Naschen befanden. Damit ging er durch das fünfstöckige Haus, auf der Suche nach den richtigen Leuten, um mein Schicksal in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich blieb unten im Wartesaal auf einer Bank sitzen. Jede Minute strömten neue Rekruten aus den verschiedensten Moskauer Bezirken herein. Gleichzeitig liefen die so genannten Käufer durch den Saal – wie Vampire auf der Jagd nach frischem Blut. Die meisten Offiziere waren von weit her gekommen, um sich mit neuen Soldaten einzudecken. Natürlich waren sie in erster Linie auf große, kräftige Jungs scharf. Doch fast alle Rekruten im Saal sahen übel aus. Sie hatten eine lange Abschiedsfeier hinter sich und
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