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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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war fünfzehn und bestand nur aus Händen und Füßen, die noch nicht zu ihm passten. Er stand rechts neben Morgan und überragte seinen älteren Bruder. Carl mit seinen roten Haaren und den Sommersprossen war die Entgleisung schlechthin: ein Rückschritt – wie ihn Dad und Mom oft aufzogen – in die Richtung einiger verheirateter Vettern auf Moms Seite.
    Wie leicht es uns allen fiel, in die Kamera zu lächeln! Das Lächeln einer Familie, die zwar über keine finanziellen Reichtümer verfügte, aber sich bewusst war, dass ihr Leben reich und süß war wie Moms frische Butter. Ich frage mich, ob seither einer von uns wieder so offen, so ehrlich gelächelt hat. Selbst Mom, die kamerascheu war, lächelte mit kaum verhohlenem Stolz.
    Mit vierzehn war ich bereits gut fünf Zentimeter größer und wahrscheinlich sieben Kilo schwerer als sie. Mom war einssiebenundfünfzig – also genau diese fivefoot two, wie es in dem Schlager hieß, den sie, wie sie beteuerte, nicht ausstehen konnte. Sie war zierlich und anmutig, aber nicht schwach.
    Ich war noch ziemlich klein, als mir dämmerte, dass ich niemals schön sein würde, dass man sich niemals so nach mir umdrehen würde wie nach meiner Mutter. Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, dass ich niemals diese anerkennenden Blicke von Männern beziehungsweise dieses schmallippige Lächeln der Frauen ernten würde. Ich hatte bereits die Hälfte meiner Teenagerjahre hinter mir, als ich anfing, mich darüber zu grämen. Das war, als River kam. Bis dahin hatte ich mich in ihrem Glanz gesonnt. Selbst dann, wenn andere gedankenlos auf den Unterschied zwischen uns hinwiesen.
    Als Mom mich an jenem Sommertag River vorstellte, war ich erleichtert, in diesen blauen Augen keine Überraschung, keinen Hinweis auf irgendeinen Vergleich zwischen Mom und mir zu erkennen. Und ich war dankbar, keinen weiteren ungalanten Kommentar darüber zu hören, wie wenig ich meiner Mutter ähnelte.
    Ich war sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine dieser unbedachten Bemerkungen mit anhörte. In jenem Winter hatte man mich ausgewählt, bei unserer Weihnachtsfeier in der Schule eine Ballade zu rezitieren. Das Gedicht über den Gründer unserer Stadt, Daniel Atwood, hatte kein Geringerer als mein großer Schwarm verfasst, nämlich Boyer Angus Ward. Er übte schon Wochen vor dem Auftritt jeden Abend mit mir.
    Als ich die Ballade zum ersten Mal las, saß ich, in eine Decke eingemummelt, an dem behelfsmäßigen Schreibtisch in Boyers Dachbodenzimmerchen. »Wird Mr. Atwood das nicht krummnehmen?«, fragte ich. Alles, was ich über die Familie Atwood wusste, war, dass sie in einem riesigen Gebäude aus Ziegel- und Steinmauerwerk wohnte, das auf die Main Street schaute.
    »Keine Sorge«, lächelte Boyer. »Es geht um den ersten Mr. Atwood, den alten Daniel. Stanley senior ist sein Sohn, und der ist überhaupt nicht so wie sein Vater. Stanley könnte man einen Philanthropen nennen.«
    »Philanthro…?«
    »Das ist dein Zehnpennywort der Woche!«, sagte Boyer und reichte mir sein Webster’s Dictionary herüber.
    Am nächsten Tag nahm ich die Ballade als meinen Beitrag für die Konzertprobe in die Schule mit. Als die Lehrerin mich fragte, wer sie verfasst habe, hielt ich mein Versprechen Boyer gegenüber und antwortete – und auch auf dieses Wort war ich ziemlich stolz –: ein Anonymus.
    Boyer und ich hatten die Verse so viele Male geübt, dass ich sie im Schlaf wiederholen konnte. Ich kann sie immer noch aufsagen. Ich weiß inzwischen, dass das Werk, von einem fünfzehnjährigen Jungen geschrieben, kein großer literarischer Wurf war, aber damals war es das für mich, und ich fühlte mich verantwortlich, mich der Worte meines Bruders würdig zu erweisen. Am Abend des Konzerts stand ich auf der Bühne des Turn- und Vortragssaals der Atwood Elementary School und musste schlucken.
    Mom saß in der ersten Reihe und strahlte mich an, während ich auf meinen Einsatz wartete. Mein Vater neben ihr zwinkerte mir zu und grinste mit seinen blitzend weißen Zähnen herauf. Morgan und Carl saßen in der hinteren Reihe und schnitten Grimassen. Nichts hätte ihnen mehr Spaß gemacht, als zu erleben, dass ich mich verhaspelte. Aber ich konzentrierte mich auf Boyers aufmunterndes Lächeln und begann:
    Im Atwood Hotel, da erzählt man sich Geschichten,
    Zwischen Kartenspiel und Kautabak,
    Geschichten, wie das erste Gold hier fand
    Daniel Atwood, auch der Alte Elchbulle genannt.
    Ich warf die Worte direkt Boyer zu, wie er

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