Milner Donna
eines alten Kinderreims zitierend.
Würde ich an Omen glauben, wäre ich bei seinen Worten erschaudert. Aber wenn ich zu jener Zeit überhaupt erschauderte, dann nur bei dem Gedanken an mein eigenes süßes Geheimnis, meine Gefühle für River.
Boyer fing an, den Lastwagen zu entladen.
Drinnen zündete er die Gaslampen an. »Propangas genügt, bis ich es mir leisten kann, die Stromleitung bis hier heraus zu verlegen«, hatte er gesagt, als er die Propangaslampen und den Kocher installierte.
Ich habe Leute sagen hören, dass Autos mit der Zeit ihren Besitzern ähnlich sähen. Für mich allerdings sah Boyers neues Zuhause ihm schon jetzt ähnlich. Genauer gesagt, es fühlte sich an wie er – warm, beruhigend und verlässlich. Der Schein des gelben Lichts reflektierte von altem Holz. Ich hatte Stunden neben Boyer verbracht, um diese Holzbalken zu säubern und die Ritzen zu schließen, nur damit er vor den meisten von ihnen Bücherregale anbringen konnte.
Als ich die Reihe von Romanen auspackte und ordnete, sagte ich mir, dass Boyer diesen Raum ebenso als Heimstätte für seine Büchersammlung geschaffen hatte wie für sich selbst.
Die schwere Holztür wurde geöffnet, und River trat ein. Während des Winters hatte ich mit Neid beobachtet, wie Boyers und Rivers Beziehung sich zu einer stillen Freundschaft entwickelt hatte. Bis dahin war mir niemals aufgefallen, dass er mit irgendjemandem, außer mit Familienmitgliedern und Father Mac, so viel Zeit verbracht hätte.
»Das ist die letzte«, sagte River und stellte die Kiste auf den Tisch. Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus und griff nach einem gebundenen Buch, das oben in der Kiste lag. Er besah sich das Titelbild, drehte das Buch dann um und studierte ein Foto von Präsident Kennedy auf der Rückseite.
»Es ist kaum vorstellbar, aber im November ist es schon vier Jahre her, dass er ermordet wurde«, sagte er nachdenklich und reichte mir dann Zivilcourage herüber. »Ich bin neugierig«, fuhrt er fort. »Wie war das damals hier – bei euch Kanadiern? Wie hat die Nachricht auf euch gewirkt?«
»Ich war erst zwölf«, antwortete ich und war mir vollauf bewusst, dass Rivers Blick auf mir ruhte. »Ich glaube nicht, dass ich es damals richtig verstanden habe.« Ich dachte einen Moment nach und versuchte, mich zu erinnern, was ich an jenem Tag gefühlt hatte. »Unser Direktor kam in unser Klassenzimmer und gab bekannt, dass Präsident Kennedy erschossen worden war. Wir wurden früher nach Hause geschickt. Woran ich mich am besten erinnere, das war der entsetzte, ja verängstigte Ausdruck auf den Gesichtern aller Lehrer, die sich draußen zusammendrängten, während wir auf den Bus warteten.«
Und ich erinnerte mich an Boyers ernste Miene, als er uns alle nach Hause fuhr. Die folgenden Tage waren die einzigen, an denen ich ihn je stundenlang vor dem Fernseher sitzen sah. Wir alle saßen in unserem Wohnzimmer und verfolgten die Ereignisse von Dallas, die immer wieder gezeigt wurden.
Boyer zog einen Stuhl zum Tisch und setzte sich. »Ich war fassungslos«, sagte er leise. »Wie wohl die meisten Kanadier wusste ich, dass wir einen Freund verloren hatten. Ich erinnere mich an seinen Besuch in Ottawa 1961. Fünfzigtausend Menschen hatten sich auf dem Parliament Hill versammelt und versucht, einen Blick auf ihn und Jackie zu erhaschen. Ich denke, viele sahen in ihm eher eine Mischung aus einem Fürsten und einem Filmstar als einen Politiker. Als er starb, trauerten wir um ihn, als wäre er einer der Unseren gewesen. Es fühlte sich so an, als hätte er zu uns gehört.«
Das Zischen der Propangaslampen füllte die Stille. Nach einem Moment ergriff River das Wort. »Ich war in der zwölften Klasse, wir hatten Geschichtsunterricht, als die Nachricht über die Lautsprecheranlage kam. Unser Lehrer legte einfach den Kopf auf das Pult und winkte uns aus dem Klassenzimmer. Als wir nacheinander hinausgingen, herrschte eine unheimliche Stille auf den Gängen. Niemand sagte ein Wort. Selbst die Spindtüren wurden leise geöffnet und geschlossen.«
Die Schatten im Zimmer wurden länger. River fuhr fort: »An jenem Abend traf ich mich mit drei meiner Kumpel, mit Ray, Frankie und Art. Rays Vater hatte, bevor er zur Arbeit ging, eine Flasche Whiskey auf den Couchtisch gestellt. Wir vier saßen vor dem Fernseher, bis das Testbild zu flimmern begann. Dann blieben wir im Dunkeln sitzen und versuchten, uns irgendeinen Reim auf all das zu machen. Was natürlich unmöglich war.
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