Milner Donna
Es war surreal. Keiner von uns wollte akzeptieren, dass er so einfach ermordet worden war. Wir waren überzeugt, dass es die Russen waren. Wir alle wollten etwas Größeres verantwortlich machen als das Männlein, das sie festgenommen hatten. Im Laufe der Nacht kamen wir auf die Möglichkeit eines Krieges zu sprechen. Und darauf, sich beim Militär zu melden. Ray und Art hatten bereits vor, in die Armee einzutreten, sobald sie mit der Schule fertig waren. Sie sahen darin eine berufliche Chance. Aber weder Frankie noch ich hatten irgendeine Absicht, universal soldiers zu werden. Doch merkwürdig war, dass es einen Moment gab, als ich glaubte, dass die Russen dahintersteckten – und in diesem Moment stellte ich mir mich selbst in Uniform vor, mit einer Waffe in der Hand.« Bei diesem Geständnis schüttelte er langsam den Kopf.
»Die Hälfte von uns trug am Ende diese Uniform«, sagte er. »Bei Ray war es keine Überraschung. Aber bei Frankie? Frankie war von Natur aus so sanft. Seine Familie hatte eine Hühnerfarm, nur ein paar Meilen von unserer entfernt. Er würde nicht zur Universität gehen. Deswegen sprach er mit seinem Pfarrer darüber, dass er den Wehrdienst aus religiösen Gründen verweigern wolle. Der Priester überredete ihn, in der Armee zu dienen, als Kriegsdienstverweigerer zwar und ohne Dienst an der Waffe. Tja, sicher, als Nichtkombattant, aber man geht trotzdem durch das Ausbildungslager und lernt, wie man mit einer Waffe umgeht.«
River beugte sich vor und betrachtete seine Hände. »Im letzten Frühjahr habe ich einen Brief von Ray bekommen. Drei Tage nachdem Frankie in Nam eintraf, landeten er und Ray auf einem medizinischen Versorgungsschiff auf dem Mekong. Sie gerieten in einen Angriff von Heckenschützen und erhielten den Befehl, zu den Waffen zu greifen. Während Frankie sein Gewehr schulterte, betete er: ›Lieber Gott, bitte, lass mich keinen töten.‹ Als das letzte Wort aus seinem Mund kam, klaffte in der Mitte seiner Stirn ein Einschussloch. Ray schrieb, dass Frankie lächelnd auf dem Schiffsdeck zusammensackte.«
River seufzte und bemerkte dann: »Ich vermute, dass Gott sein Gebet erhört hat.«
Er blickte auf und schob sich die Haare hinter die Ohren. »Ray ist immer noch da drüben«, sagte er. »Vielleicht kommt er als Held nach Hause. Ich hoffe, er kehrt überhaupt zurück. Er verdient es. Jeder, der bereit ist, für das zu sterben, woran er glaubt, ist ein Held. Frankie war ein Held. Die Jungs – die Männer – da drüben sind alle Helden. Es sind die Politiker, die Führer, die bereit sind, junge Männer wegen ihrer eigenen politischen Spielereien zu opfern, die die Feiglinge sind. Gott sei Dank haben wir immer noch Robert Kennedy, der sich gegen Johnson und seine Lügen stellt. Wenn Bobby Präsident ist, wird er diesen Krieg beenden.«
Nach ein paar Augenblicken fragte Boyer: »Und dein anderer Freund?«
»Art?« River lächelte. »Der wollte sich freiwillig melden. Er hat die medizinischen Tests nicht bestanden. Ein Problem mit dem Innenohr. Er weinte wie ein Baby, weil man ihn nicht genommen hat. Und dann gab es ja auch noch mich. Ich habe mich in der Universität weggeduckt. Bis eben Norman Morrison dieses Streichholz angezündet hat.«
Unbewusst griff River wieder in die Kiste auf dem Tisch. Er zog ein mit Stoff bezogenes kleines Buch heraus und ließ es in seiner Hand aufklappen. Ich erkannte die vergilbten Seiten von A Book of Treasured Poems . Eines von Boyers Lieblingsbüchern.
»Hast du deine Entscheidung jemals bereut?«, fragte Boyer.
River blickte eingehend auf die Seiten vor ihm. »Ich bereue nicht, gegen den Krieg protestiert zu haben«, sagte er, und als er aufsah, trafen sich ihre Blicke. »Aber natürlich tut es mir leid, dass ich mein Land verlassen und meine Ausbildung aufgeben musste.«
Nach einem Moment ließ er seinen Blick wieder zum Buch wandern. Er las laut vor:
Groß ist der Mann, der nicht zur Waffe greift,
Gut ist der Mann, der den Schnaps verschmäht.
Der aber, der versagt und trotzdem weiter kämpft,
Der ist mein Bruder, mein Zwilling sogar.
» Für die, die versagen von Cincinnatus Miller«, ergänzte Boyer, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. »Poeta laureatus, Oregon. Verfasst in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.«
River schüttelte verwundert den Kopf.
»Kennst du jedes Gedicht in diesem Buch?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich, weil ich wusste, dass Boyer selbst es niemals zugeben würde.
Aber
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