Mimikry
besaß.
Albern, daß man sich an den Lippenstift erinnerte. Albern auch die roten Augen, morgen würde sie Tropfen brauchen. Sie schob ihr Notizbuch in die Tasche und legte die Hand auf den Behälter, in dem die Waffe steckte – dieser Behälter hatte einen Namen, den sie dauernd vergaß, Futteral möglicherweise.
Im Grunde war die Waffe zu schwer. Mit einem Finger fuhr sie über den Lauf; bei Übungen schoß sie leidlich mit einer Hand, den Notfall hatte sie noch nicht ausprobiert. Mit zwei Händen traf sie alles, doch man konnte es sich nicht aussuchen, wenn der Notfall kam. Sie richtete die Waffe gegen den Spiegel und starrte eine Weile in die Mündung, bevor sie sie wieder sorgsam verstaute. Krebsrote Augen, schlimmer noch als rot.
Irgendwer redete auf der Straße. Das Laternenlicht warf einen hellen Kreis auf die Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Im zweiten Stock war das Fenster gekippt, ein Stück vom Vorhang wehte heraus.
Sie schlief kaum. Sie hörte alle möglichen Geräusche, die es nicht gab, in dieser Nacht jedenfalls nicht, Musik und Gläserklirren, Sherrygläserklirren. Klappernde Mülltonnendeckel und Hilmars Stimme, »Vielleicht gibt es sich, wenn du« – Hatte er reden gesagt? So ähnlich; »wenn du es nicht für dich behältst«, das hatte er gesagt, und das hatte sie ja gekonnt. Sie hatte nicht gewußt, daß sie es konnte. Vielleicht kam man klar mit allem, erzählte man von den Bildern, die man sah. Sie drehte sich auf den Bauch, schloß die Augen, und die Geräusche kamen zurück, tanzende, stampfende Füße auf dem Boden, eine weinende Katze und Tommys Stimme, wenn sie sich liebten, ein leiser Laut, wie eine verhaltene Klage.
Gegen halb fünf stand sie auf, um das Telefon wieder einzustecken, es klingelte aber nicht. Eine Stunde blieb sie noch liegen und sah zu, wie sich an der Zimmerdecke im Dämmerlicht ganz langsam der nackte Haken formte, an dem keine Lampe hing und auch kein Mensch.
Die Augentropfen halfen kaum. Sie brauchte eine Ewigkeit, um etwas Gescheites zum Anziehen zu finden, nicht zu dunkel, nicht zu knallig, nicht zu sehr, wie sie sich fühlte. Sie wußte nicht genau, wie sie sich fühlte, darum fand sie auch nichts. Als sie die Wohnung verließ, war es viel zu früh. In einem Stehcafé trank sie eine Kanne Tee, malte Männchen in ihr Notizbuch. »Seifert«, hatte sie notiert, Straße, Hausnummer, Telefon.
Der Zucker war weg, verschwunden, gekidnappt; eine Frau wuselte durch die vier Quadratmeter und rief: »Wer klaut denn Zucker? Ja, du lieber Gott!« Sie stellte ein Kännchen Milch vor Ina Henkel hin und sagte: »Jetzt klauen sie schon Zucker.«
»Ich brauch keine Milch.«
»Zucker gibt’s nicht, haben sie geklaut. Grad vorhin, zwei Jugendliche.«
»So«, sagte sie. Vielleicht waren es dieselben Knallköpfe, die ihr den Außenspiegel demoliert hatten, Haftstrafe nicht unter fünfzehn Jahren. Sie empfand den unbändigen Wunsch, Zuckerdiebe zu jagen. Außenspiegelkillern auf der Spur, mit Sonnenbrille, im Cabrio. Bericht erstatten im BKA.
Um neun Uhr stellte sie ihren Wagen vor dem Neubau ab, in dem Vera Seifert wohnte. Auf einem Stückchen Grün davor bewegten eine dünne Frau und ein bärtiger Mann sich zu einem alten Lied von Patti Smith. Wunderbar laut dröhnte die Musik durch die Straße, because the night belongs to lovers, hinter den Fensterscheiben der Häuser bewegten sich Gardinen. Sie lachten und tanzten und tranken Asbach aus der Flasche.
»WO KOMMST DU HER?« schrie der Mann. »Bist du aus Berlin? Ich bin aus Berlin.«
»ER KOMMT AUS FREIBURG«, brüllte die Frau. »Er lügt immer.«
Drinnen entschuldigte Vera Seifert sich für die Leute draußen. Ein Mann im Morgenmantel saß auf dem Sofa, sie selbst hatte sich schick gemacht, trug einen Hosenanzug und war viel dezenter geschminkt als beim letzten Mal, als sie die weißen Lilien vor Julia Bischofs Wohnungstür gelegt hatte.
»Das ist der Tobias.« Lächelnd deutete sie auf den Mann.
»Hi«, sagte er.
»Ja«, sagte Ina Henkel.
Die Musik und das Lachen von der Straße waren bis hier oben zu hören. »Die hängen hier einfach herum«, sagte Vera Seifert. »Man muß schon Angst haben, das Haus zu verlassen. Noch nicht einmal die Polizei –« Sie stockte. »Sie müßten doch dazwischengehen, oder?«
»Warum?« Ina Henkel hob die Schultern. »Wenn man überall dazwischenginge, wäre man ständig irgendwo, na ja, dazwischen.«
»Also dann –« Vera Seifert faltete die Hände. »Trinken Sie eine
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