Mimikry
es vielleicht auffallen würde, bliebe er plötzlich aus. Die Kollegen natürlich, der Schichtleiter zuerst und, falls so etwas im Urlaub passierte, sein Bruder und sein Schwager und die Tochter. Na gut, der Schwager eher nicht. Eventuell die Nachbarin von gegenüber.
»Das schmeckt nicht«, murmelte Hieber.
»Hm?« Leos Lippen glänzten. »Kann ich nicht sagen.«
»Wir hatten doch früher das Schaschlik, das war so ähnlich, oder? Haben sie uns nachgemacht. Quasi imitiert.«
»Was für Zeug?«
»Schaschlik. War’n noch Zwiebeln drin und Speck.«
Leo leckte die Fingerspitzen ab und griff nach der Cola. »Haben wir vielleicht selber nachgemacht. Schaschlik hört sich irgendwie Ungarisch an.« Als es im Funk zu knattern begann, beugte er sich vor und drehte lauter.
»Lenaustraße«, sagte die Stimme.
»Ich weiß, wo das ist.« Hieber nickte zum Armaturenbrett hin. »Wir sind kurz davor.« Er klopfte Leo auf den Schenkel. »Dann schmeiß es mal weg, dein Döner.«
Schweigend fuhren sie durchs Nordend, bis Hieber sagte: »Schaschlik ist bestimmt nicht aus Ungarn.« Bilder links und rechts, die er nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, ein Mann vor einem Schaufenster, ein Trupp Kinder vor der Straßenbahnhaltestelle. Eine Frau beugte sich über einen Kinderwagen, auf dem Pflaster blitzte ein Sonnenstrahl.
Vor dem Haus in der Lenaustraße winkte ein Mann ihnen zu, als wolle er beim Einparken helfen. Als Hieber ihm die Hand reichte, fiel ihm ein, daß seine Tochter letztens etwas von einem fischigen Händedruck erzählt hatte. Was um Himmels willen das sein solle, wollte Hieber wissen, worauf die Tochter erklärte: Fischig eben. Glitschig.
Der Mann hier drückte fest und trocken zu, doch als er gleich darauf sagte: »Alles ist naß«, guckte Hieber zur Seite.
»Also, ich wohne drunter«, erklärte der Mann, »im ersten Stock. Ich kann den Vermieter net erreichen, Sie müssen mal gucken, ist furchtbar, die macht ja net auf.«
»Öffnet nicht«, wiederholte Hieber.
»Die Frau Jung.« Der Mann rannte vor ihm her. »Die Frau Jung im zwoten Stock. Meistens ist die ja da, denk ich, aber jetzt bei so’m Malheur natürlich net.«
Hieber klingelte im zweiten Stock, dann klopfte er und klingelte erneut, während der Mann erzählte, daß Wasser durch die Wände kam, seine Wand schon feucht. Kam von oben. Lief durch, Rohrbruch vielleicht.
Niemand öffnete. Th. Jung stand auf der Tür, Hieber schlug mit der Faust dagegen.
»Die ist meistens daheim«, sagte der Mann.
»Na anscheinend jetzt nicht«, murmelte Hieber.
»Sag ich doch.« Der Mann stöhnte.
»Schlüsseldienst«, sagte Hieber, und Leo lief zum Wagen zurück.
»Wer ersetzt mir das«, fragte der Mann, »wir harn grad erst renoviert.«
»Ich warte hier.« Hieber berührte ihn an der Schulter. »Dauert nicht lange.« Er mochte es nicht, wenn Leute herumstanden, während er selber nicht wußte, was Sache war. Wenn er ein ungutes Gefühl hatte, konnte er das schon gar nicht leiden. »Gehen Sie mal in Ihre Wohnung, Sie können hier gar nichts tun.«
»Meinen Sie?« fragte der Mann. »Ich hab den Klempner da, aber viel kann der jetzt auch net machen.« Er deutete zur Tür. »Er sagt, es kam’ von hier.«
Hieber nickte. Als er allein war, drückte er das Ohr gegen die Tür. Zu viele Geräusche von draußen, zu unruhig sein eigenes Herz, dessen Schlag er zu hören glaubte auf dem Holz. Er klingelte erneut und tat es so lange, bis der Schlüsseldienst kam.
Es war immer ein merkwürdiges Gefühl, wenn so eine Tür dann offen war. So ein unbestimmtes Gefühl, wie es früher gewesen war, wenn er als Kind auf dem Rummel Geisterbahn fuhr. Es zog sich etwas zusammen im Innern, immer noch, man atmete flacher und tastete sich voran.
Er sah einen großen, dunklen Flur, links die Küche, daneben das Bad. Das erste, was ihm auffiel, war der Geruch. Nicht dieser grauenhafte Gestank wie in der Wohnung des Fried. Ganz anders, vertrauter. Vertraut und dennoch unangenehm; Hieber konnte sich erinnern, so etwas schon einmal gerochen zu haben, doch er wußte nicht wohin mit dieser Erinnerung, etwas Parfümartiges, Penetrantes. Als er die Badezimmertür öffnete, sah er zuerst das Wasser auf dem Boden und dann das Wasser in der Wanne, das etwas Blaues umspülte.
»Hahn«, flüsterte Leo hinter ihm, und Hieber beugte sich über die Wanne, um den Hahn abzudrehen, aus dem ein dünnes Rinnsal lief. Durch das blaue Plastikzeug hindurch erkannte er die Konturen eines Menschen, er war sich
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