Mimikry
Biggi konnte ihr den Fluch von den Lippen ablesen, als sie sich bückte, und als sie sich aufrichtete, sah sie genau zu ihr hin.
Sie starrte Biggi aus zusammengekniffenen Augen an, die Jacke in der einen, den Walkman in der anderen Hand. Ein Zögern, ein Schreck vielleicht, dann wandte sie sich ab. Biggi hatte zwei Schritte nach links gemacht, auf den Supermarkt zu, denn das war ja normal, daß man an einem Samstagmorgen in den Supermarkt ging, und das hätte sie auch sagen können, doch die Henkel ging weiter, ging jetzt viel schneller und hatte keine Regung gezeigt außer diesem merkwürdigen Erschrecken, keine Freundlichkeit, nicht einen kurzen Moment lang, nichts, kein Hallo.
Sonst hätte Biggi ja sagen können, sie würde hier öfter einkaufen, irgend etwas Belangloses; man traf jemanden und sagte Hallo.
Wenn man richtig reden könnte.
Sie wußte, daß es so nicht ging. Daß sie anders werden mußte. Nicht so eine Maus, wie Julia gewesen war, sie mußte lernen. Wie man sich anstellen konnte; sie wollte das nicht. Manchmal haßte man sich selbst, bis die schönen Träume wiederkamen und man genau so war, wie man sich haben wollte. Sie stolperte auf den Supermarkt zu, nur für den Fall, daß die Henkel sich doch noch einmal umdrehte, alles andere hätte keinen Zweck gehabt.
Drinnen griff sie nach einem Einkaufskorb und wußte nicht, was sie reinpacken sollte, einen Salat, Orangen, es war voll hier drin. An der Waage stand die Frau vom Fenster.
Sie zählte Tomaten ab und murmelte dabei vor sich hin, zwei, drei, vier. Biggi erkannte sie sofort, weil sie sie heute durch das Fernglas gesehen hatte, die Fensterguckerin konnte also laufen und sprechen und nach Dingen greifen. Sie trug ein Band im Haar, das hatte man von unten schon erkennen können; es war ein blaues Band, das sah man jetzt. Vielleicht war sie vierzig, vielleicht jünger, sie hatte keine Frisur, nur Haar, das strähnig fiel. Ihre Wimpern waren ziemlich dicht und die Brauen hatte sie bis auf eine dünne Linie ausgezupft. Sie legte fünf Tomaten auf die Waage und stand dann grübelnd davor, fuhr mit einem Finger über die bunten Bilder mit Äpfeln, Möhren und Orangen.
»Da sind sie«, sagte Biggi. Sie deutete auf das Schild mit den aufgemalten Tomaten, und die Frau wandte sich ihr zu und lächelte.
»Man sieht es so schlecht«, sagte sie. »Danke, vielen Dank.«
Man sah es eigentlich ziemlich gut; Biggi nahm sich noch Bananen. Neben ihr plärrte ein Kind, das die Mutter vorn auf den Einkaufswagen gesetzt hatte. Es war viel zu groß dafür, hockte unbequem und wollte herunter, doch die Mutter sagte, nein, das finde sie jetzt nicht so gut. Als Biggi ihren Wagen vorbeischob, spürte sie, wie sie jemand an der Jacke zupfte. Die Fensterguckerin lächelte und sagte: »Die Bananen sind sehr gut.«
»Ja?« fragte Biggi.
»Doch, die sind schön fest.« Sie schien unentwegt zu lächeln, wenn sie mit jemandem sprach. »Mögen Sie Bananen?«
Biggi hätte sagen können, daß diese Frage clever war angesichts des Zeugs in ihrem Wagen, die Henkel hätte so etwas vielleicht gesagt. Sie nickte.
»Ja, ich auch.« Die Fensterguckerin schob ihren vollgepackten Wagen neben ihr her, doch sie hielt Abstand, sah immer wieder scheu zur Seite, ob sie Biggi nicht zu nahe kam und sagte: »Samstags ist es immer voll.« Sie nahm sich allen möglichen Kram aus den Regalen, mit schnellen Handgriffen, als würde sie immer dasselbe kaufen, Fertiggerichte und ein Kräutertee Gute Nacht.
»Ich war samstags noch nicht hier«, sagte Biggi.
»Sie wohnen nicht hier?« Ihre Stimme war leise und drängend. Die Kasse war schon in Sicht, und sie wollte vielleicht weiterreden.
Biggi sagte: »Ich hab hier zu tun.«
»Am Samstag?« Sie lächelte. »Was arbeiten Sie denn? Darf man das fragen?«
»Ja«, sagte Biggi. Sie blieb stehen. »Polizei. Ich meine, bei der Polizei. Kripo.« Sie sah zu, wie die Fensterguckerin eine Flasche billigen Sherry im Wagen so herumdrehte, daß man das Etikett nicht mehr sah.
»Das ist ja interessant«, sagte sie. Sie sah nicht an Biggi herunter, zum Bein herunter und wieder herauf, das tat sie nicht.
Sie lächelte bloß. Andächtig, fast ein wenig bewundernd.
Sie hatte ziemlich große Augen, dunkle, blanke Knöpfe in einem bleichen Gesicht.
29
An seinem letzten Tag sieht Martin Fried nach, was es im Fernsehen gibt. Ein paar Talkshows, Krimis, Mutterdramen, eine Volksmusikparade. Die Fernsehzeitung legt er auf den Sessel. Doch er sieht nicht fern
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