Mimikry
oder schaltet den Fernseher aus, als der Besucher kommt. Er serviert Kartoffelchips und Cola, wird nicht mehr lange leben. Er schaltet zwei Stehlampen ein und spielt eine Dire-Straits-CD.
Schläge, er fällt, er steht nicht mehr auf. Bleibt liegen unter der tickenden Uhr.
Als man ihn fand, war eine der Glühbirnen durchgebrannt, die Leuchtanzeige des CD-Players brannte noch immer.
Ina Henkel warf ihr Notizbuch auf den Tresen. Sie hatte nichts, nur eine kleine Liste, hingekritzelt in Frieds Wohnung, die aufgeschlagene Fernsehzeitung, die zersprungene Vase, vergammelte Chips und die Coladosen auf dem Tisch. Sie zog das Notizbuch wieder heran. Strichmännchen neben den Zeilen, kleine Todeskandidaten mit einer Schlinge um den Hals, Kreuze, aufgereiht wie auf einem Massengrab. Sie räusperte sich und sah hoch. Der Wirt schob ihr eine Tasse Kaffee hin.
»Ich hab nichts bestellt.« Sie klappte das Buch zu.
»Aber ich bitte Sie, das ist ein Service des Hauses.« Der Wirt machte eine einladende Geste, dann hielt er inne, als hätte er sich falsch benommen, murmelte: »Das macht mich auch nicht ärmer.«
Es war die einzige Kneipe zwischen den Hochhäusern, es gab noch einen Bäcker, einen Kindergarten und zwei Lebensmittelläden. Kinder radelten zwischen Müllcontainern; die Kleinsten trugen Zettel mit der Hausnummer bei sich, weil sie sich nicht merken konnten, in welchem der großen Kästen sie wohnten. Der Bierhahn tropfte. Ein paar Leute saßen an den Tischen und guckten auf ihre Gläser. Niemand redete, keiner lachte, und es gab keine Musik.
»Ihre Kollegen kommen öfters her«, sagte der Wirt. »Gibt Einbrüche hier, Schlägereien. Die Leute hängen rum und hassen sich. Es kommen aber meistens Uniformierte, wo arbeiten Sie denn?« Er lächelte. »Ich kenne mich bißchen aus.«
»K 15«, sagte Ina Henkel. »Dann geben Sie mir wenigstens Zucker.«
Der Wirt rührte sich nicht. »Mordkommission, na also. Ich hab mich schon gewundert, warum Sie am Samstagnachmittag – obwohl, viele glauben ja, der hätte einen Unfall gehabt. Liegengeblieben. Man stellt sich so Sachen vor, vor denen man selber Angst hat, die ganzen Horrorvorstellungen projiziert man in so etwas hinein.«
»Haben Sie keinen Zucker?«
Geistesabwesend schob er ihr vier eingepackte Würfel hin, die sie einen nach dem anderen in den Kaffee warf.
»Das ist ja widerlich«, sagte er. »Wollen Sie lieber heiße Schokolade?«
»Haben Sie ihn gekannt?« Als sie ihm das Foto hinhielt, schloß er die Augen. Seit Stunden waren sie unterwegs, kämmten die Hochhäuser durch, zeigten das Foto und stellten immer wieder dieselben Fragen. Immer wieder »Kennen Sie ihn? Können Sie was sagen?« Immer wieder Schulterzucken. Sie hatten nichts, nur das Foto.
»Weiß nicht«, sagte der Wirt. »Stammkunde war das keiner.« Mit dem Kopf deutete er auf einen dunkelhaarigen Jungen, der zwei Tische weiter saß und sie beobachtete. »Der kommt öfter. Der ist hier zu Hause.«
Der Junge war aufgestanden, fünfzehn, sechzehn, älter war er nicht. Stocker sagte bei solchen Gelegenheiten, man dürfe sie nicht duzen, aber Stocker duzte niemanden außer seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Der Junge verbeugte sich und nahm Ina Henkel das Foto aus der Hand. Nur der tropfende Bierhahn war zu hören.
»Sieht beschissen aus.« Seine Stimme wackelte ein bißchen.
»Wirklich?« Ina Henkel nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht.
Ja, sagte der Junge, sähe aus, wie vom Fernseher abgelichtet, das hatte er selber mal gemacht, Kate Moss vom Fernseher abfotografiert, was nicht so doll war, aber trotzdem geil, Kate! Moss!
»Ich frage aber nicht nach Kate Moss.«
»Dicki.« Der Junge atmete aus, als hätte er lange die Luft angehalten.
»Weiter?« Sie schob einen Fingernagel zwischen die Lippen.
»Dicki, weil – na ja. War halt net so schlank. Weiß net, wie der heißt, hatte so rote Backen. Den ham sie rausgetragen?«
»Ja«, sagte sie. »Den.«
»Ich mein’, der wär das gewesen.« Er fuhr sich durchs Haar. »Hat mal hier gehockt. Hat vielleicht öfters hier gehockt, aber einmal isser mir aufgefallen. Mit so ’ner Tussi. War witzig, weil: die warn beide so – na ja – so abgetan. So fertig irgendwie.«
»Wie sah die Frau denn aus?«
»Ja, net so wie Sie, Frau Polizeirat.« Der Junge kicherte und sah zur Tür. Nichts weiter; ein Mann, der sich kurz umsah und dann zum Spielautomaten ging. »So eine kann man sich net merken. Komische Leut. Beide.«
Der Spielautomat
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