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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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die Tüten der Frau, wie sie auf- und niederwippten.
    »Nein.« Die Henkel ging einen Schritt auf sie zu. »Sie hören mich den ganzen Tag nicht, da können Sie doch an ein, zwei Abenden mal ein bißchen Rücksicht nehmen. Wenn Ihr Mann dauernd mit dem Schlagbohrer –«
    » Ich soll Rücksicht nehmen«, schrie die Frau, »wenn Sie randalieren?« Sie ließ eine Tüte fallen. »Das nächste Mal rufe ich die Polizei, das können Sie mir glauben.«
    »Ja, machen Sie.« Die Henkel drehte sich um, dabei kickte sie etwas aus dem Rinnstein, das dann scheppernd über den Gehsteig rollte. Als Biggi zusah, wie die Frau sich danach bückte, es war eine Bierdose aus der Tüte, die sie fallengelassen hatte, tat sie ihr fast ein bißchen leid.
    Die Henkel ließ den Astra stehen, und weil sie ziemlich langsam ging, konnte Biggi ihr folgen. Lahme Ente, lahme Kuh, du Krücke. Paßte sie nicht auf, war alles im Kopf, die Worte und die Stimmen, Kinderstimmen, das Gekicher. Viele Kinder über ihr, im Kindergarten auf dem Boden, keine Luft mehr zum Atmen, vielleicht war es auch in der Schule gewesen. Keine Luft mehr. Die anderen Kinder hatten sich über sie geworfen, viele Kinder, ein ganzes Rudel, und Biggi war nicht mehr hochgekommen, kein Ausweg, ein Gefühl, an das sie sich erinnern konnte, als grabe sich eine Angst, die man einmal hatte, auf ewig in das Leben ein. Sie war die einzige Hinkende in der Schule gewesen. Ein Junge hatte gestottert, dem war es auch so blöd ergangen, aber bei dem hatte sich das Stottern wieder gegeben, das hatte einfach aufgehört.
    Biggi konnte nicht schnell gehen, das war eigentlich alles. Und nicht so gerade und elegant wie die Henkel da vorn. Biggis Chef sparte Geld an ihr, so hatte sie ihn verstanden, er mußte keine Abgabe an den Staat zahlen, weil er sie in der Firma als Behinderte eingestellt hatte, was Blödsinn war, sie hinkte ja nur ein bißchen. Die Verrenkung im Hüftgelenk war angeboren und hatte einen medizinischen Namen, den sie nie aussprach, die Schmerzen waren erst später gekommen. Weil sie mit dem kürzeren Bein nicht richtig auftreten konnte, durfte sie nicht so schicke Schuhe tragen, keine Pumps, immer nur Treter. Die sahen häßlich aus, sie wußte das. Sie war aber nicht schwerbehindert, hatte nur » 50 Prozent «in ihrem Behindertenausweis stehen und ein » G «für » Gehbehindert « , damit bekam man einen Sitzplatz in der U-Bahn, aber den brauchte sie nicht, sie hatte ja ihren Wagen. Wenn es sein mußte, ging sie auch lieber mit der Krücke statt mit einem Stock. Die Krücke war massiver, und sie konnte sich besser darauf stützen, und dann sah es vielleicht auch so aus, als hätte sie sich das Bein nur gebrochen, denn Leute mit Beinbruch gingen auch mit der Krücke und nicht am Stock.
    Die Henkel drehte sich nicht um. Sie machte merkwürdige Schlenker, hierhin, dorthin, ohne Ziel. In einem Stehcafé redete sie mit einem blonden Mann, der mit einer FAZ da stand. Er quasselte die ganze Zeit, doch sie sah ihn nicht an, hatte die Arme auf den Tisch gestützt, guckte auf die Platte. Sie küßte ihn leicht auf die Wange, als sie ging, und sah nicht zurück, als er noch etwas rief.
    Biggi hatte erwartet, sie würde sich vielleicht mit Leuten zum Frühstück treffen, viele taten das am Samstagmorgen, in der Firma erzählten sie das dauernd. Doch sie ging bloß in den Park, wo sie eine gute Stunde auf der Bank saß, ohne daß etwas geschah. Hunde rannten, Kinder radelten, und sie sah zu, bevor sie einen Walkman aus der Jackentasche holte, Kopfhörer aufsetzte und die Augen schloß.
    Nichts weiter. Damit konnte kein Mensch etwas anfangen. Biggi selbst hatte schon stundenlang in Parks auf Bänken gesessen, an Wochenenden, an Sommerabenden, an Samstagen wie diesem, und man wurde blöd mit der Zeit. Man sah dann Lichter, wo keine waren, ein Flackern im Gebüsch, ein Zeichen im Baum, in der Krone, holt mich keiner? Sie preßte die Fäuste gegen die Schläfen. Warum machte sie das, hockte hier so herum – es wäre einfach gewesen, jetzt zur Bank zu gehen, zu reden und zu sehen, was geschah. Biggi schob ein paar Zweige zurück, ging näher heran, doch dann stand die Henkel so hastig auf, als hätte sie einen Termin. Sie zog die Jacke aus und ging langsam zurück, immer langsamer, je näher sie der eigenen Wohnung kam. Sie schob die Sonnenbrille ins Haar, sah sich Schaufenster an, blieb stehen, ging weiter, alles ohne Ziel. Als sie die Jacke über die Schulter warf, fiel der Walkman heraus.

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