Mimikry
notiere mir das, ich schreibe ein Buch.«
»Über Talkshows?« Stocker nahm ein paar Blätter vom Tisch; Hilmar rief: »Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl.«
»Ich durchsuche ja nicht, ich lese. Sie möchten doch Leser haben, oder?« Stocker hob den Kopf. »Was wird das denn?«
»Verhaltensforschung. Ich bin Biologe. Leben und Tod. Darum geht es immer, bei Tieren, bei Menschen. Ich meine nicht den physischen Tod, ich meine den anderen, den schlimmeren, den psychischen Tod, den sozialen Tod. Was tut man, um am Leben zu bleiben? Man paßt sich an.« Er hob eine Hand. »Immer und überall, das ist das Thema.«
»Ah so«, sagte Stocker, und Ina Henkel fragte: »Was haben die Talkshows damit zu tun?«
»Alle quasseln. Sie quasseln sich den Tod vom Hals, sagen der Welt: Hier bin ich, ich lebe.«
»Tatsächlich?«
»Haben Sie jetzt nicht begriffen.« Hilmar lachte. » Ich brauche kein Gequassel. Ich hab nie mit der Bischof geredet, warum soll ich mit den Leuten hier reden? So ’ne Frau ist mal zu ihr gekommen.«
»Ja. Und Sie?« Auf der Fensterbank lagen Pornohefte, sie nahm eins in die Hand.
»Was soll mit mir sein? Stehen Sie unter Druck?«
Sie blätterte das Heft durch. »Warum wollten Sie nicht aufmachen?«
»Ich laß mich ungern stören.« Hilmar sah zu, wie sie blätterte. »Geilt Sie das auf?«
Sie schleuderte das Heft auf die Fensterbank zurück, es fiel herunter. »Warum reden Sie nicht mit den Leuten?«
Hilmar lächelte. »War Ihnen schlecht vorhin?«
»Was?«
»Sie sind aus Frau Bischofs Wohnung gekommen, als wären Sie total im Arsch.«
»Ah so?« Ina Henkel ging an ihm vorbei zur Tür. »Sie interessieren sich nicht für die Leute, stehen aber fleißig hinterm Spion, ja? Was ist denn bei Ihrer Nachbarin so alles abgegangen?«
»Sie sehen das falsch.« Er kam auf sie zu und hob eine Hand, als wolle er ihr das Haar aus der Stirn streichen. »Bei der lebenden Frau Bischof ist gar nichts abgegangen. Bei der toten schon.« Wie ein eifriger Portier öffnete er seine Tür.
»Ich danke fürs erste«, sagte Stocker.
»Keine Ursache.« Hilmar kicherte. Sie hörten ihn husten, als sie draußen waren.
Zurück in Julia Bischofs Wohnung guckten sie zum Sofa, auf dem die Leiche gesessen hatte. Dunkle Flecken überall. »Was ist mit dem Fenster?« fragte Ina Henkel.
»Dach.« Stocker schüttelte den Kopf. »Da ist unmöglich jemand rein oder raus, außer der Katze. Was auch nicht ungefährlich ist, es sind schon Katzenviecher von Dächern geplumpst.«
»Wer macht denn jetzt weiter?« Sie notierte Hilmars Namen. »Soll ich mit dieser Frau reden, die sie aufgefunden hat? Oder machen Sie das?«
»Machen Sie’s.« Stocker gähnte. »Von Frau zu Frau.«
»So ein Knallkopf.«
»Hilmar?« Er lachte. »Denken Sie was?«
»Ich weiß nicht.« Sie umklammerte ihr Notizbuch. »Der hat Schwulenpornos da. Nackte Kerle in Lackstiefeln, zum Brüllen. Hab ich aber zu spät gesehen.«
»Allerdings haben Sie das. Sie hatten zuviel Tempo, das war keine Vernehmung.«
»Es riecht, nicht?« Sie legte den Kopf in den Nacken. Das Fenster stand offen, Kinder schlugen einen Ball gegen die Hauswand. Dreimal dröhnte eine Hupe, und eine Frauenstimme schrie: »Jetzt wart doch ab!«
»Was meinen Sie?« fragte Stocker.
»Das Blut.« Sie zog die Schultern hoch. »Das Scheißblut riecht immer so.«
7
Biggi hatte stundenlang gewartet. Der ältere Polizist hatte sie ins Präsidium gebracht, und es war überhaupt nicht merkwürdig gewesen, im Polizeiwagen zu fahren. Sie saß vorn und hätte auch eine Kommissarin sein können, und der Polizist hatte gesagt, einer der Kripoleute würde noch mit ihr reden müssen und daß es nicht lange dauern würde. Es dauerte aber ewig. Sie saß auf dem Flur des Präsidiums herum, und man hatte noch einmal ihre Personalien aufgenommen, als gäbe es sonst nichts zu tun, und man hatte sie warten lassen, bis diese Polizistin endlich kam.
Sie machte einen Heidenlärm auf dem Flur, sie trug hochhackige Pumps und ging schnell. Ihren Mantel hatte sie über die Schulter gelegt, und Biggi glaubte schon, sie würde jetzt wieder an ihr vorbeirennen, wie sie es vor Julias Haus gemacht hatte, doch sie blieb stehen und sagte: »Frau Benz? Kommen Sie mit?« Wie bei einer Ärztin, die ins Sprechzimmer bittet.
Es war ein häßliches Büro mit grauen Möbeln. Nirgends hingen Verbrecherfotos oder kleine Fähnchen, die im Stadtplan steckten. Außer einem Spiegel und einem Jahreskalender hing überhaupt nichts an
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