Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
Fausthieb, aber trotzdem mit weit mehr Wucht als bei einer bloßen Ohrfeige. Sie sah es kommen und konnte schon das Blut in ihrem Mund schmecken, da, wo ihre Zähne ihre Backe verletzen würden, sie hörte ihre Ohren klingeln und spürte ihr Gehirn in ihrem Schädel rappeln.
Aber bevor es geschah, bevor er sie traf, hob sie den Arm, um den Schlag abzufangen, dabei wirbelte sie herum wie eine Tänzerin – oder vielmehr wie ein Schwarzgurt im Karate, der einen Roundhouse-Kick vollführte – und trat ihm mit dem Stiefel mitten ins Gesicht.
David fiel unsanft zu Boden, und Anna stand da, völlig perplex. Sie sah sich nach Joseph um – er steuerte diesen Traum, oder? Aber er war weg.
Und ihr erster Gedanke war voller Entsetzen – wie konnte er sie einfach so allein lassen? Als sie an sich hinuntersah, merkte sie, dass sie wieder den Rock und die Bluse trug wie an jenem schrecklichen Tag. Sie trug wieder dieselben bescheuerten Schuhe, in denen sie unmöglich rennen konnte.
Und als David sich vom Boden aufraffte und sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund wischte, wusste Anna, was nun kam und hörte sich selbst schreien.
Doch in dem Moment, als David einen Schritt auf sie zu machte, und dann noch einen, wurde ihr klar, dass es überhaupt keine Rolle spielte, was in diesem Albtraum geschah. Was zählte, war, dass Joseph Bach Nika fand, und wenn er nicht neben Anna stand, hieß das nicht – Gott, bitte –, dass er sie gefunden hatte?
Und Anna schleuderte ihre Schuhe von sich, und anstatt wegzulaufen, rannte sie geradewegs auf David zu. Mit den Händen, die Finger zu Vogelschnäbeln geformt, hackte sie auf seine Augen ein, während sie so nah an ihn herantrat, dass sie ihm – mit voller Wucht – das Knie in die Weichteile rammen konnte.
Sie hatte keine Ahnung, woher sie wusste, wie das ging. Damit er ihr nicht zu nah kommen, sie nicht packen und nach unten ziehen konnte, musste sie ihn mit den Ellenbogen treffen und dann erneut treten – sie hatte wieder die Stiefel an. Und selbst wenn er doch an sie herankam, dann würde sie sich immer noch zur Wehr setzen können. Es war, als hätte ihr jemand die Fähigkeit zur effektiven Selbstverteidigung direkt ins Gehirn gepflanzt …
Und das hatte auch jemand. Nämlich Joseph.
Schlaf weiter …
Anna lachte, als David näher kam.
Was nun kam, würde zu seinem Albtraum werden.
Niiikaaa …
Durch die Geräusche von einem Dutzend unfein essender Mädchen hindurch – die faden Reis mit den Händen in ihre hungrigen Mäuler schaufelten – hörte Nika, wie ihr Name gerufen wurde.
Sie war wieder »auf Linie«, wie das schwangere Mädchen ihre Anwesenheit in dem schrecklichen Waisenhaus-Krankenschlafsaal genannt hatte, wo sie und die anderen Mädchen an ihre Betten gefesselt waren.
Nika war dort aufgewacht. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie das schwangere Mädchen in jenem hotelartigen Zimmer auf sie hinabgeblickt hatte, nachdem die Apparatur an Nikas Arm gezischt und ein Schlafmittel in ihren Körper gejagt hatte.
Bisher war der Tag bereits ein Albtraum gewesen.
Sie war von durchdringenden Schreien aufgewacht und Zeugin einer brutalen Attacke auf eins der kleinsten Mädchen geworden – dessen Namen sie noch nicht kannte.
Die schlimmsten Schreie kamen von den Mädchen in ihrer unmittelbaren Nähe. Ebenso wie sie selbst, konnten sie sich nicht befreien und waren gezwungen zuzusehen, als der narbengesichtige Mann das Mädchen mit den Fäusten bewusstlos schlug.
Wenigstens benutzte er nicht sein Messer, doch die Angst, die Nika bei dem Gedanken durchfuhr, dass er es doch tun könnte, ließ ihr Herz so laut hämmern, dass sie die Schreie kaum hörte.
Als es vorbei war und das Mädchen ohnmächtig dalag, blieb der Narbengesichtige am Fußende von Nikas Bett stehen, und sie zitterte vor Angst und Wut.
»Sollen wir die Devon geben?«, fragte er sie, und zunächst verstand sie seine Worte nicht.
Doch dann begriff sie. Er fragte sie – sie! –, ob er das Mädchen, das er gerade fast umgebracht hatte, dem widerlichen Mann geben sollte, der sie auf dem Bürgersteig geschnappt hatte. Und sie konnte nicht antworten – sie wollte nicht antworten.
Doch dann sagte er: »Keine Antwort ist auch eine Antwort.«
Und das bedeutete, wenn sie nicht Nein sagte, hieß das Ja, also sagte sie es laut: »Nein!« Und wenn sie weniger Angst gehabt hätte, hätte sie ihn angespuckt. Aber das tat sie nicht.
Er lachte sein schreckliches Lachen: »Bald musst du
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