Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
wählen.« Dann bückte er sich, hob das Mädchen auf, warf sie wieder auf ihr leeres Bett und band sie fest, ehe er das Zimmer verließ.
Doch das Mädchen wachte und wachte nicht auf, und der Mann kam wieder herein und ließ die Mädchen zur Ader, und sie wachte immer noch nicht auf.
Und als die Tür wieder aufging, rechnete Nika mit dem Schlimmsten – dass der Mann zurückgekommen war, um das Mädchen ausbluten zu lassen –, aber stattdessen kam eine Frau herein. Sie war älter, blass und übergewichtig, hatte ausgewaschenes, farbloses Haar und trug eine blutverschmierte weiße Uniform. Sie redete nicht, sagte kein Wort, nicht einmal, als Nika sie anflehte, ihnen zu helfen.
Sie zog bloß einen Rollwagen herein und hielt den Blick gesenkt, während sie jedem der Mädchen einen Pappteller mit einem kleinen Haufen weißem, breiigem Essen hinstellte. Nika war sich zuerst nicht sicher, was es war, bis die Frau ihr den Teller auf den Schoß klatschte und sie die klebrigen Reiskörner sah.
»Wenn sie uns losbinden, iss schnell«, warnte eines der Mädchen – Leah – sie. »Manchmal bringen sie Essen und nehmen es gleich wieder weg. Und manchmal bringen sie es und binden uns nicht los, sodass wir es nicht essen können.« Ihre Stimme zitterte. »Oh, bitte, mach, dass sie uns losbinden«, sagte sie immer und immer wieder vor sich hin.
Während sie das flüsterte, stellte die Frau den letzten Teller ab, drehte sich langsam und ging wieder auf die Tür zu.
Mit einem Klicken wurde der Gurt, der Nikas linken Arm festhielt, gelöst – alle wurden auf die gleiche Art befreit. Und ohne ein weiteres Wort langten sie alle zu – aßen mit den Fingern und stopften sich so viel Nahrung wie möglich in die Münder.
Alle bis auf das Mädchen, das geschlagen worden war. Sie lag immer noch bewegungslos und still da.
Auch Nika tat so, als griffe sie nach ihrem Essen und schaufele es in ihren Mund. Sie hatte wieder Hunger, also war es nicht schwer – doch in Wahrheit beobachtete sie, wie die Frau langsam aus der Tür schlurfte, und wartete, bis diese sich hinter ihr geschlossen hatte. Und dann machte sie sich an ihren anderen Fesseln zu schaffen und versuchte sie zu lösen.
Niiikaaa …
Vergeblich.
Sie konnte sich nicht befreien. Natürlich nicht. Die Leute, die sie dort festhielten, hätten sie nicht losgebunden, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass sie sich befreien konnte.
Trotzdem war die Enttäuschung fast unerträglich, und sie fing an zu weinen.
Niiikaaa, sei stark. Nimm deinen Mut zusammen.
»Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Ich kann einfach nicht mehr!«
Niiikaaa, ich bin ein Freund deiner Schwester Annaaa, und wir werden dich finden, wir kommen dich da rausholen.
Toll. Jetzt wurde sie schon wahnsinnig.
Und hörte Stimmen.
Schizophrenie. Sie hatte gelesen, dass Menschen, die unter großem Stress standen, oft einer Geisteskrankheit nachgaben, die sie unter normalen Umständen vielleicht erfolgreich abgewehrt hätten.
Du bist nicht schizophreeen. Mein Name ist Joseph Bach, und ich bin ein Freund von Annaaa.
Also multiple Persönlichkeitsstörung. Darüber hatte sie auch gelesen. Aber vielleicht war das gar nicht so schlecht. Vielleicht dachte ein Teil ihres Gehirns, sie sei jemand namens Joseph Bach, der ihre Fesseln lösen, der alten Dame und dem narbengesichtigen Mann in den Arsch treten und dem ganzen Raum voller Mädchen zur Freiheit verhelfen konnte.
Obwohl, Moment. Sie/Er musste auch Devon Caine in den Arsch treten. Der war wahrscheinlich hier irgendwo im Gebäude und wartete nur darauf, dass sie freikam.
Devon Caine ist da?, fragte die Stimme. Weißt du das mit Sicherheit?
»Nein«, gab sie zu. »Ich glaube es nur.«
Aha, verstehe, sagte die Stimme. Der Mann mit den Narben hat Caine erwähnt, nachdem …
»Ich hätte Ja sagen sollen«, sagte Nika und begann wieder bitterlich zu weinen. »Sie stirbt so oder so, und ich hätte Ja zu ihm sagen sollen.«
Nika, sagte die Stimme, und sie war jetzt viel weniger echohaft und entfernt, was zugleich besser und gruseliger war. Du hast das Richtige gemacht. Niemand sollte je vor eine solche Wahl gestellt werden.
»Aber sie stirbt – sie ist wahrscheinlich schon tot! Und jetzt wird er mich eins der anderen Mädchen auswählen lassen, und die werden auch sterben!«
Ebendiese anderen Mädchen beäugten sie jetzt misstrauisch, während sie zu Ende aßen und die Stimme in Nikas Kopf sagte: Atme durch. Ich will, dass du durchatmest, Niik.
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