Mingus
beiden schauen sich an –, »… nachdem sie … in der Gewalt dieser bösen Menschen war, in der Unterstadt«, sagt Papa vorsichtig. »Man hat sie dort …« Mama umarmt mich und macht Papa Zeichen. »Wie lange ist das jetzt her, dass du nachts nicht schlafen konntest, Schatz?«, flüstert sie.
»Wochen«, sage ich matt.
»Siehst du?«, sagt Papa. »Sie kommen morgen. Ein junges Team. Tolle Leute.«
»Wir müssen ja wieder los, du weißt, und du hast den Winter doch nie gemocht«, sagt Mama. »Und so könntest du …«
»Vertrau mir«, sagt Papa. Mama putzt sich die Nase.
»Macht doch mit mir, was ihr wollt«, sage ich.Und so liege ich, weich gebettet, unter der schönen goldenen Zeltblase, und Kräuterdämpfe machen mich so benommen, dass ich geweckt werden muss, um zu trinken und zu essen. Lauter flüssige Sachen, die süß schmecken und lauwarm sind. »Muttermilch«, hat der Techniker in goldener Uniform gesagt, der mit seinen Leuten das Zelt aufgebaut hat. Es ist wahr, dass ich schlafe wie ein Murmeltier. Die Meeresbrandung, die ich mir gewünscht habe, hüllt mich ein. Ich habe kein Gefühl für Zeit, alles fließt ineinander und wird unwichtig. Sie nennen das Zelt den »goldenen Uterus«. Manchmal kommen Wissenschaftler mit dem Team und schauen zu mir herein. Wenn ich wach genug bin, winke ich. Das Schönste ist, ich habe so die glücklichsten Träume. Mingus kommt zu mir hereingeflogen wie ein Vogel, und er singt auch wie ein Vogel. Ich frage ihn, ob er mich vermisst, und er nickt und lächelt mir zu, es dauert lange, bis er sich auflöst.
Ich habe es gut. Meine Eltern sind in den Kolonien, und das Haus kümmert sich um alles. Ich werde nie gestört. Ich werde für immer in diesem Uterus bleiben. Wer möchte denn geboren werden? Ich nicht. Ich verschlafe den Winter. Alles ist gut.
Natürlich muss das ganze wunderbare Traumleben irgendwann aufhören.
Der Winter ist fast vorbei, und meine Eltern kommen bald zurück. Das Uterus-Team hat mich Schritt für Schritt wieder aus meinem Faultierleben herausbugsiert, mich entwöhnt. Ich tapse zurück in die Welt, ins wirkliche Leben.
Die Zuhörerin kommt und hört sich viele Stunden langmeine Träume an. Ich sehe an ihrem Gesicht, dass sie das ganze Uterus-Unternehmen für Schwachsinn hält und glaubt, es habe mir nichts gebracht. Ich aber lache über ihr saures Gesicht, bis ich fast ersticke. Das tut gut. Ich weiß gar nicht, was sie hat. Noch bin ich halb im Traum, noch geht es mir gut, und ich glaube, es wird so bleiben, für immer. Aber so ist es nicht.
Es ist süß, wenn Mama zu mir in die Schlafbucht kommt, aber es ist auch beunruhigend. Das hat sie nicht mehr gemacht, seit ich ganz klein war. Sie will mich spüren, sagt sie. Sie sagt das immer wieder. Sie umarmt mich. Das ist schön, aber ich kann es nicht genießen.
»Was willst du?«, frage ich.
»Bei dir sein«, sagt sie. »Du warst zwei Jahre weg. Hast du mich vergessen? Hast du es nicht mehr gerne, wenn ich dich so halte und küsse? Bist du so schrecklich erwachsen geworden ohne uns?«
Papa. Ich sehe ihn, er steht in der Tür, eingewickelt in seine Relaxrobe. Er sieht aus wie eine große Zigarre. Sie macht ihm ein Zeichen zu verschwinden.
»Er macht sich immer noch Sorgen«, flüstert meine Mutter verschwörerisch.
»Ich bin zurück!«, rufe ich. »Ich habe monatelang herrlich geschlafen und geträumt. Ich bin gesund! Hört endlich auf mit dieser penetranten Fürsorge!« Meine Stimme ist so schrill. »Ihr müsst mich nicht mehr in Watte packen. Aber jetzt sagt mir endlich, was Sache ist. Ich halte das jetzt aus. Immer weicht ihr mir aus!«
»Die Zuhörerin sagt immer noch, es wäre besser …«
»Scheiß auf die Zuhörerin. Sie soll nicht mehr kommen«, rufe ich.
»Sie sagt …«
Ich halte mir die Ohren zu, und Mama schiebt mich ein Stück von sich, betrachtet mich erstaunt und umarmt mich dann fester.
»Willst du denn nicht wieder ganz und gar heil werden?«, sagt sie nahe an meinem Ohr.
»Ich will jetzt endlich alles wissen!« Ich kreische.
Jetzt ist Papa da. Er sitzt auf meinem Bett. Mama weint.
»Man sucht immer noch nach ihm. Aber man wird ihn bald haben. Er wird dir nichts mehr tun. Er wird für alles büßen«, sagt Papa.
»Wer?«, schreie ich.
»Dieser Verbrecher, der dich gekidnappt hat. Dieser kranke Verbrecher. Dieses Untier.«
»Ach komm«, Mama weint. »Sie haben ja nicht mal entdecken können, wo er sie eingesperrt hatte all die Zeit. Er braucht nur nach Braxico
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