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Minuszeit

Minuszeit

Titel: Minuszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James White
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Löchern war, aus denen dichte Massen von Seetang an die Oberfläche wuchsen.
    Sie hatte ihn nackt und zusammengekauert auf der windgeschützten Seite eines Felsblocks liegen sehen und sofort an einen Schiffbrüchigen gedacht, der sich von einem gesunkenen Motorboot oder einer Jacht an Land gerettet hatte und erschöpft liegengeblieben war. Als ihr die Kleider einfielen, die ihn hätten identifizieren können, konnte sie keine finden; vermutlich waren sie vom ablaufenden Wasser mitgespült worden. Alles, was sie zu der Zeit entdecken konnte, war ein großes, zerrissenes Stück orangefarbenen Plastikmaterials gewesen. Anfangs hatte sie geglaubt, dass es die Reste eines Gummischlauchboots seien, aber das Material war von anderer Art. Soweit sie sehen konnte, trug das Plastikmaterial keine Beschriftungen oder Seriennummern.
    Weil es die Zeit der auflaufenden Flut war und das Wasser bereits seine Beine umspülte, hatte sie ihn mühsam auf höheres Gelände gezerrt und in ihren Mantel eingewickelt. Dann war sie losgerannt und hatte Hilfe geholt.
    Was ihr am deutlichsten im Gedächtnis geblieben war, war die Schwierigkeit, die es ihnen bereitete, seine zur Faust geballte Rechte aufzubrechen. Sie hatten fünf kleine bunte Kieselsteine vom Ufer umschlossen, und er hatte wie ein Säugling geweint, als sie versucht hatten, ihm die Steine zu nehmen. Er hatte sie noch bei sich, als er acht Monate später die Klinik verließ.
    An jenem ersten Tag hatten sie sich nur um seinen körperlichen Zustand gekümmert. Er litt an Unterkühlung und beginnender Lungenentzündung, und sein ganzer Körper war mit Schnitten, Abschürfungen und Prellungen bedeckt, die er sich zugezogen haben mußte, als er ans Ufer gekrochen war – zu gehen verstand er nicht. Er hatte viel geweint, hemmungslos und ohne jede Scham, wie ein kleines Kind.
    Als seine Verletzungen allmählich heilten und er sich an seine Umgebung zu gewöhnen begann, weinte er nur noch, wenn er hungrig war oder sich einer ähnlichen Form persönlicher Not gegenübersah. Er hatte nicht mehr Kontrolle über seine Bewegungen als ein Baby, er verstand kein Wort, das zu ihm gesprochen wurde, und auf alles, was zu ihm gesagt wurde, antwortete er mit Gegurgel und anderen unsinnigen Lauten. Sie mußten ihn alles lehren. Selbst die einfachsten Tätigkeiten schienen ihm unbekannt zu sein.
    Sein körperliches Koordinationsvermögen war jedoch sehr gut. Sehr rasch lernte er zu stehen, zu sitzen und umherzugehen. Nach zwei Monaten konnte er ohne Hilfe zur Toilette gehen, nach drei Monaten konnte er essen, ohne Kleider und Tischplatte allzu sehr zu bekleckern, und als er ein halbes Jahr in der Klinik zugebracht hatte, arrangierte Schwester Sampson ein kleines Fest für ihn, zu welchem Anlaß er eine sehr kurze Rede halten und fünf Seiten aus einer Fibel für Sechsjährige vorlesen konnte. Während seines gesamten Aufenthalts hatte er die Neugierde eines kleinen Jungen zur Schau gestellt. Er hatte keine Krankheiten irgendwelcher Art, und die kleinen Verletzungen, die er sich gelegentlich zuzog, entstammten seinen Versuchen, Möbelstücke, Regenrohre und Bäume zu erklettern.
    Er begann zu wandern, verschwand oft für mehrere Stunden aus dem Krankenhaus, kam aber immer zurück. Und immer war er nach solchen Ausflügen lehmbespritzt und aufgeregt und völlig unfähig, zu schildern, was er getan hatte. Seine unbeaufsichtigten Wanderungen in die Umgebung schienen ihm zu helfen, er war offenbar vernünftig genug, Verletzungen und Ärger mit anderen Leuten zu vermeiden, und so ermutigte man seine selbständigen Exkursionen.
    Dann war er eines Nachmittags mit einem Freund im Schlepptau zurückgekehrt. Er zerrte ihn buchstäblich die Eingangsstufen hinauf, wie einen neuentdeckten Onkel, den er vorzeigen wollte. Der Name des Freundes war Tillotson, und von ihm erfuhren sie unter anderem, was John Pebbles während seiner zweimal täglichen Abwesenheiten zu machen pflegte. Tillotson war ziemlich verlegen über die Heldenverehrung, die Pebbles ihm gegenüber bezeigte, aber das hinderte ihn nicht, mit Entschiedenheit für Pebbles’ Entlassung aus dem Krankenhaus zu plädieren. Tillotson bestand darauf, dass Pebbles viel intelligenter sei, als er scheine, dass er selbst ihm einen Arbeitsplatz in einer Umgebung verschaffen werde, die ihm zusagen würde, und dass es sowieso falsch sei, gesunde Menschen in Anstalten zu verwahren.
    »Wir behielten ihn noch vier Wochen bei uns«, berichtete Schwester Sampson,

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