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Minuszeit

Minuszeit

Titel: Minuszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James White
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»und gaben ihm einen intensiven Unterricht in Fragen des selbständigen Lebens und Überlebens in der Zivilisation – wie man Busse und Züge besteigt und verläßt, wie man die Geschwindigkeit und die Richtung des Verkehrs beurteilt, Verkehrsampeln und Warnschilder liest, und dergleichen mehr. Und schließlich ließen wir ihn auf die Welt los,«
    Ihre Zähne blitzten blendend weiß, wenn sie lächelte. »Nun, wir waren sehr froh für Pebbles, aber natürlich hatten wir unsere Arbeit hier, und so verloren wir ihn allmählich aus den Augen. Doktor Kennedy und Mr. Savage von Hart-Ewing versprachen, uns zu verständigen, falls Pebbles in Schwierigkeiten geraten sollte. Sie haben es meines Wissens nicht getan, und nun sind Sie gekommen und …«
    »Er hat sich sehr gut herausgemacht«, sagte Carson. Wenn er Morris und der Krankenschwester erzählte, wie gut, dann würden sie es wahrscheinlich nicht glauben, und so fuhr er vorsichtig fort: »Er hat sich in der Abendschule bewährt, und auch im Betrieb fegt er nicht mehr die Böden. Aber was mich an der ganzen Geschichte interessiert, ist die Frage nach seiner ursprünglichen Herkunft. Konnten Sie seine Eltern oder Verwandten ausfindig machen?«
    »Wir verständigten natürlich die Polizei und gaben eine Suchmeldung an die Zeitungen«, antwortete Dr. Morris. »Aber niemand meldete sich, und es besteht die Möglichkeit, dass sie nicht ausfindig gemacht werden wollten. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie herzlos und grausam waren. Ich kann mir Umstände vorstellen, wo seine angemessene Pflege die Kräfte einfacher kleiner Leute übersteigen würde. Körperlich war er sehr gut versorgt, und es gab keine Anzeichen von Unterernährung oder grausamer Behandlung. Aber wer immer ihn aufgezogen hat, konnte an Alter oder Krankheit zugrunde gegangen sein …
    Zuerst hielten wir ihn für einen Amnesiefall«, fuhr der Arzt fort, »aber es gab keine Anzeichen für Kopfverletzungen, und ein so vollständiger Gedächtnisverlust ohne massive Gehirnverletzung wäre mehr als ungewöhnlich.«
    »Aber wenn er kein Amnesiefall ist«, sagte Carson, »was war dann mit ihm passiert, Doktor?«
    »Amnesie ist nicht ganz auszuschließen, Mr. Carson. Aber totaler Gedächtnisverlust ist, wie gesagt, ungewöhnlich. Er wird gewöhnlich bei ernsten Gehirnschädigungen oder nach sehr schweren traumatischen Schocks beobachtet, aber selbst dann ist der Verlust nicht vollständig, weil der Patient immer noch sprechen und essen und sich anziehen kann, obgleich er nicht wissen mag, wer er ist, und seine Freunde und Verwandten für einige Zeit nicht wiedererkennt.«
    Dr. Morris bohrte seine Zehen in den warmen Sand, und sein Gesicht nahm einen grüblerischen Ausdruck an. »Liegt keine Gehirnverletzung vor, so genügt es meistens, den Patienten mit Freunden und vertrauten Gegenständen zu umgeben, um den Erinnerungsmechanismus wieder zu aktivieren. Außerdem gibt es heutzutage Medikamente, die den Prozeß fördern. Wir haben es auch bei Pebbles mit solchen Behandlungsformen versucht, obwohl wir nicht wissen konnten, welche Menschen oder Gegenstände er als vertraut empfinden könnte. Auf manchen Gebieten reagierte er rasch und positiv – beim Gehenlernen, Anziehen, Türen öffnen und so weiter. Möglich, dass er diese Dinge rasch lernte, weil er sie bereits einmal beherrscht hatte und die Erinnerungen zurückkehrten. Aber er hatte vergessen, wie man spricht. Nichts konnte diese Erinnerung aktivieren, und gerade das ist die eine Fähigkeit, die selbst bei Fällen sogenannter totaler Amnesie selten eingebüßt wird. Wir mußten ihn unterrichten, als ob er eine neue Sprache zu lernen hätte – in keinem Stadium verriet er Spuren früherer Kenntnisse oder eine Vertrautheit. Darum bin ich über die Amnesietheorie nicht glücklich.«
    »Ich denke«, sagte Carson nach einer Weile, »es ist wohl auch nicht gut möglich, dass er bloß vorgab, alles vergessen zu haben …«
    Sofort merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte – es war plötzlich sehr kühl auf dem heißen Strand. Selbst Jean musterte ihn kalt. Er fuhr hastig fort: »Aber abgesehen von der Tatsache, dass er wie ein dreißig Jahre altes Findelkind ausgesetzt wurde, war und ist er ein ungewöhnlicher Fall. Es mag Ihnen seltsam vorkommen, aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch eine Frage aufwerfen: Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass er keine Zeichen von Vernachlässigung oder ernsten Verletzungen zeigte, dass seine Symptome nicht die

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