Mio, mein Mio
über die Bergspitzen hinweg. Auf der höchsten Spitze, dort, wo der ewige Schnee lag, ließ ich ihn niedergehen. Und wir saßen auf Miramis’ Rücken und sahen hin über das Land, das uns am Fuß des Berges erwartete. Da lag im Mondschein der Wald der Dunkelheit und sah schön aus und gar nicht gefährlich. Es war also wahr, daß ein Wald, der im Mondschein schläft, nichts Böses will. Ja, mein Vater, der König, hatte recht: Hier waren nicht nur die Menschen gut. Alle Wälder und Wiesen und Bäche und alle grünen Haine, auch sie waren gut und wollten nichts Böses. Und die Nacht war gut, war freundlich wie der Tag, der Mond schien mild wie die Sonne, und die Dunkelheit war eine gute Dunkelheit. Hier gab es nichts, wovor man Angst haben mußte.
Nur eines gab es, wovor man sich fürchten mußte. Eines nur. Als wir so auf Miramis’ Rücken saßen, sah ich weit hinter dem Wald der Dunkelheit ein Land, das noch viel dunkler war, und die Dunkelheit dort war nicht gut. Denn man konnte nicht in sie hineinsehen, ohne zu zittern.
»Was ist das für ein unheimliches Land?« fragte ich Jum-Jum. »Das Land Außerhalb beginnt dort«, sagte Jum-Jum. »Dort liegt die Grenze des Landes Außerhalb.« Ich sagte: »Ritter Katos Land!« Da zitterte Miramis, als fröre er, und große Felsblöcke lösten sich von der Bergwand und stürzten krachend in das Tal hinunter.
Ja, nur einen gab es, vor dem man sich fürchten mußte: Ritter Kato. Vor ihm mußte man sich fürchten, sehr, sehr fürchten. Aber ich wollte nicht an ihn denken. »Der Wald der Dunkelheit«, sagte ich zu Jum-Jum. »Der Wald der Dunkelheit – dort will ich jetzt hin.« Da wieherte Miramis, und wild erklang das Echo von den Bergwänden.
Dann schwebte Miramis leicht durch die Luft, dem Mondscheinwald am Fuß des Berges entgegen. Und aus dem Wald stieg es auf, als wieherten hundert Pferde in der Nacht. Tiefer und tiefer schwebten wir, bis Miramis’ Hufe weich, ganz weich die Baumkronen berührten. Zwischen grünem Laub sanken wir nieder. Wir waren im Wald der Dunkelheit.
In sehr vielen Wäldern bin ich noch nicht gewesen, aber einen Wald, der diesem glich, konnte es nicht geben. Der Wald der Dunkelheit hatte ein Geheimnis. Ich fühlte, hier gab es ein großes und seltsames Geheimnis. Vielleicht hatte der Mond einen Schleier darüber gebreitet, um es mir zu verbergen. Es säuselte in den Bäumen. Sie flüsterten von dem Geheimnis, aber ich konnte es nicht verstehen. Die Bäume standen ganz still und schimmerten im Mondschein. Sie kannten das Geheimnis, aber ich kannte es nicht.
Plötzlich hörten wir von weit her donnernde Hufe. Es klang, als galoppierten hundert Pferde durch die Nacht. Miramis wieherte, und es war, als wieherten ihm hundert Pferde Antwort. Näher und näher kam das Donnern der Hufe, wilder und lauter wurde das Wiehern, und mit einemmal waren sie bei uns, hundert weiße Pferde mit flatternden Mähnen. Miramis warf sich in den Haufen, und sie sprengten zusammen über eine Lichtung im Wald.
Jum-Jum und ich waren abgesprungen. Wir standen unter einem Baum und sahen die weißen Pferde, Miramis an ihrer Spitze, im Mondschein wild hin und her galoppieren.
»Sie sind so glücklich«, sagte Jum-Jum. »Warum sind sie glücklich?« fragte ich. »Weil Miramis heimgekommen ist«, sagte Jum-Jum. »Wußtest du nicht, daß Miramis im Wald der Dunkelheit zu Hause ist?«
»Nein, das wußte ich nicht«, sagte ich. »Du weißt so wenig, Mio«, sagte Jum-Jum. »Wie ging es denn zu, daß ich Miramis bekam?« fragte ich.
»Unser Herr, der König, gebot, eines seiner weißen Pferde solle zur Insel der grünen Wiesen kommen, um dein Pferd zu werden.«
Ich sah zu Miramis hin, der im Mondschein galoppierte und glücklich war, und ich wurde plötzlich unruhig. »Jum-Jum, glaubst du, daß Miramis traurig ist, weil er bei mir sein muß?« fragte ich. »Vielleicht hat er immer Sehnsucht nach seinem Wald der Dunkelheit?« Als ich das sagte, kam Miramis zu mir gesprengt. Er legte seinen Kopf an meine Schulter. So stand er eine lange Zeit still und wieherte nur manchmal ganz leise.
»Siehst du, er will lieber bei dir sein«, sagte Jum-Jum. Darüber war ich froh. Ich streichelte Miramis und gab ihm ein Stück Zucker, und er nahm es mit weichen Lippen aus meiner Hand. Dann ritten wir weiter durch den Wald, und die hundert weißen Pferde folgten uns. Ich spürte das Geheimnis, das uns umgab. Der ganze Wald kannte es. Jeder Baum, die grünen Linden und Espen, die so sanft über
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