Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
Vom Netzwerk:
stand es in einem grauen, wunderlichen Dunkel, keinem ganz schwarzen Dunkel, denn es war noch immer die Dämmerstunde. Etwas Graues, Wunderliches und Altes lag über dem Haus und über den Bäumen, aber vor allem lag es über dem Brunnen, auf dessen Rand wir erwartungsvoll im Kreise saßen. »Seid ganz leise«, flüsterte Jiri, obwohl wir schon eine Weile überhaupt nichts gesagt hatten. Und weiter saßen wir still, und es wurde noch etwas dunkler und grauer zwischen den Bäumen, und ich vernahm keinen Laut mehr in diesem völligen Schweigen. Aber dann, dann hörte ich etwas. Ja, ich hörte etwas. Ich hörte, wie es unten im Brunnen zu raunen begann. Tief, tief dort unten begann es zu flüstern und zu murmeln. Es war eine wundersame Stimme, und sie glich keiner anderen Stimme.
    Und die Stimme raunte Märchen, Märchen, die keinem anderen Märchen glichen und die noch schöner waren als alle Märchen, die ich kannte.
    Es gibt fast nichts, was ich mehr liebe als Märchen, und ich beugte mich weit über den Brunnenrand, um mehr und mehr von dem zu hören, was die Stimme raunte. Manchmal sang die Stimme, und es war ein seltsamer und schöner Gesang, der aus dem Brunnen emporstieg.
    »Was ist das nur für ein wunderlicher Brunnen?« fragte ich Jiri leise.
    »Ein Brunnen voll von Märchen und Liedern. Das ist alles, was ich weiß«, sagte Jiri. »Ein Brunnen, voll von Märchen und Liedern, die vor langer Zeit einmal in der Welt waren und die längst vergessen sind. Und nur dieser Brunnen, der am Abend raunt, er kennt sie noch alle.«
    Wie lange wir dort saßen, weiß ich nicht. Zwischen den Bäumen wurde es dunkler und dunkler, und die Stimme aus dem Brunnen wurde schwächer und schwächer. Und schließlich hörten wir sie nicht mehr. Auf der grünen Wiese drüben wieherte Miramis. Sicher wollte er mich daran erinnern, daß es Zeit sei, zu meinem Vater, dem König, zurückzukehren. »Leb wohl, Jiri, leb wohl, Minonna-Nell, alle zusammen lebt wohl!« sagte ich.
    »Leb wohl, Mio, leb wohl, Jum-Jum«, sagte Jiri. »Kommt bald wieder.« »Ja, wir kommen bald wieder«, sagte ich. Wir holten Miramis und kletterten auf seinen Rücken, und heimwärts ging es in vollem Galopp. Es war nicht mehr so dunkel, denn der Mond war am Himmel aufgestiegen und beleuchtete die grünen Wiesen und die stillen Bäume. Sie glänzten wie Silber, genau wie die Pappeln zu Hause in meines Vaters, des Königs, Rosengarten.
    Wir kamen zur Brücke des Morgenlichts, aber ich erkannte sie fast nicht wieder. Sie war völlig anders. Sie schien jetzt aus Silberstrahlen gebaut zu sein. »Am Abend hat sie einen anderen Namen«, sagte Jum-Jum, als wir auf die Brücke ritten. »Wie heißt sie am Abend?« fragte ich. »Brücke des Mondlichts«, sagte Jum-Jum. Wir ritten über die Brücke des Mondlichts, die bald von den Wächtern eingezogen werden sollte, und wir sahen die Lagerfeuer der Hirten auf der Insel der grünen Wiesen wie kleine Flammen weit, weit in der Ferne. Überall in der Welt war es still, ganz still, und man hörte nur die Hufe von Miramis, die auf der Brücke dröhnten. Seine Goldmähne hatte sich in eine Silbermähne verwandelt, und Miramis sah nun im Mondschein fast aus wie ein Gespensterpferd.
    Ich mußte an den Brunnen denken, der am Abend raunt, und an all die Märchen, die ich gehört hatte. Eines hatte mir besonders gefallen. Das begann: Es war einmal ein Königssohn, der ritt auf einem weißen Pferd im Mondschein …
    Konnte ich das nicht sein? Ich war doch ein Königssohn.
    Näher und näher kamen wir der Insel der grünen Wiesen. Miramis’ Hufe donnerten wie Gewitter. Und ich dachte noch immer an das eine Märchen, das so schön war:
    Es war einmal ein Königssohn, der ritt auf einem weißen Pferd im Mondschein …

Es war einmal ein Königssohn,
der ritt auf einem weißen Pferd
im Mondschein
    Damals, als ich noch bei Onkel Sixten und Tante Edla wohnte, holte ich mir Märchenbücher aus der Stadtbibliothek. Aber davon hielt Tante Edla nicht viel.
    »Sitzt du schon wieder rum und steckst die Nase in ein Buch«, sagte sie. »Deshalb bist du auch so winzig und so blaß und elend – weil du nicht draußen sein willst wie andere Kinder.«
    Dabei war ich draußen, fast immer war ich draußen. Vielleicht hätten es Tante Edla und Onkel Sixten jedoch am liebsten gesehen, wenn ich ganz draußen geblieben wäre. Jetzt werden sie wohl froh sein, glaube ich, jetzt, da ich nie mehr hineinkomme. Nur an den Abenden las ich in den Büchern, aber

Weitere Kostenlose Bücher