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Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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»Ich habe schon viele Vögel, ich habe schon viele Kammerdiener. Ich glaube, ich werfe meine Feinde in den Turm und lasse sie verhungern.«
    Er trat einige Schritte vor und zurück und dachte nach, und jeder Gedanke, der ihm kam, füllte die Luft dicker mit Bosheit.
    »In meiner Burg verhungert man in einer einzigen Nacht«, sagte er. »Die Nacht ist so lang und der Hunger so groß, daß man in einer einzigen Nacht stirbt.« Er blieb vor mir stehen und legte seine Klaue aus Eisen auf meine Schulter.
    »Ich kenne dich gut, Prinz Mio«, sagte er. »Ich wußte, daß du gekommen warst, schon als ich dein weißes Pferd sah. Ich saß hier und wartete auf dich. Und du kamst. Du dachtest, es sei die Nacht des Kampfes.« Er beugte sich zu mir nieder und zischte voller Bosheit in mein Ohr:
    »Du dachtest, es sei die Nacht des Kampfes! Falsch gedacht, Prinz Mio! Es ist die Nacht des Hungers. Und wenn die Nacht vorbei ist, liegen in meinem Turm nur einige kleine weiße Knochen. Das ist alles, was übrigbleibt von Prinz Mio und seinem Waffenträger.« Er klopfte mit seiner Eisenklaue auf den großen Steintisch, der in der Mitte des Raumes stand, und eine ganze Anzahl neuer Späher kam herein. »Werft sie in den Turm«, sagte er und zeigte mit der Eisenklaue auf uns. »Werft sie in den Turm mit den sieben Schlössern. Stellt sieben Späher als Wachen vor die Tür. Stellt siebenundsiebzig Späher als Wachen in alle Säle, auf die Treppen und in die Gänge zwischen dem Turm und meiner Kammer.« Er setzte sich am Tisch nieder.
    »Ich will hier in Ruhe sitzen und Böses ausdenken und will nicht mehr von Prinz Mio gestört werden. Wenn die Nacht zu Ende ist, werde ich einen Blick auf die kleinen weißen Knochen in meinem Turm werfen. Leb wohl, Prinz Mio. Schlaf gut in meinem Hungerturm!« Und die Späher griffen Jum-Jum und mich und schleppten uns durch die Burg zu dem Turm, in dem wir sterben sollten. Und überall in den Sälen, auf den Treppen und in den Gängen waren sie bereits aufgestellt, die Späher, die den Weg zwischen dem Turm und Ritter Katos Kammer bewachen sollten. Hatte er so große Angst vor mir, der Ritter Kato, daß so viele Wächter nötig waren? Hatte er solche Angst vor einem, der ohne Schwert war und hinter sieben Schlössern saß mit sieben Wächtern davor?
    Die Späher hatten uns fest am Arm gepackt, während wir unserem Gefängnis entgegengingen. Wir gingen und gingen durch die große schwarze Burg. An einer Stelle kamen wir an einem Gitterfenster vorbei, und von diesem Fenster aus konnte man über den Burghof sehen. Mitten im Burghof stand ein Pferd an einen Pfahl gekettet. Es war ein schwarzes Pferd, und neben ihm stand ein kleines schwarzes Fohlen. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich das Pferd sah. Ich mußte an Miramis denken, den ich nie wiedersehen würde. Was hatten sie wohl mit ihm gemacht? Ob er vielleicht tot war? Aber die Späher rissen mich hart am Arm und zerrten mich weiter, und ich konnte nicht länger an Miramis denken.
    Wir waren bei dem Turm angekommen, in dem wir unsere letzte Nacht verbringen sollten. Die schwere Eisentür wurde geöffnet, und man schob uns hinein. Dann fiel die Tür mit einem Krach zu, und wir hörten, wie die Späher alle sieben Schlösser zuschlossen. Wir waren allein in unserem Gefängnis, Jum-Jum und ich. Ein schwacher Lichtschein kam von draußen. Unser Gefängnis war ein rundes Turmgelaß mit dicker Steinwand. In der Wand war eine Fensterscharte mit grobem Eisengitter, und durch die Scharte hörten wir die traurigen Schreie der verzauberten Vögel über dem Toten See.
    Wir hockten uns auf den Boden. Wir fühlten uns winzig und verlassen, und wir wußten, das wir sterben mußten, bevor die Nacht zu Ende war.
    »Wenn nur der Tod nicht so schwer wäre«, sagte Jum-Jum. »Wenn nur der Tod nicht so schwer wäre und wir nicht so klein und einsam.«
    Wir hielten uns an den Händen. Fest, ganz fest hielten wir uns an den Händen, wie wir dort auf dem kalten Steinboden saßen, Jum-Jum und ich. Nun war der Hunger über uns, und es war ein Hunger, der keinem anderen glich. Er quälte uns und riß und zerrte in uns und nahm alle Kraft aus unserem Blut. Wir fühlten uns, als müßten wir uns hinlegen und schlafen, um nie mehr zu erwachen. Trotzdem wollten wir nicht schlafen, noch nicht. Wir wollten noch so lange wach bleiben, wie wir konnten.
    Und wir fingen an, über das Land der Ferne zu reden, während wir auf das Sterben warteten. Ich dachte an meinen Vater, den König,

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