Mira und der weiße Drache (German Edition)
einen grazilen Körper. Sein Anzug schimmerte silbern und es rückte seine blau leuchtende Krawatte zurecht. Schließlich zog es seinen großen Zylinderhut und räusperte sich. Dann verbeugte es sich höflich vor Mira und Miranda und fing mit seltsam singender Stimme an zu reimen:
»Wunderdinge für Groß und Klein
Magische Geräte grob und fein
Enträtselungen aller Arten
Verschlüsselungen ohne warten
Anagramme, Zahlendreher
Pallindrome, Satzversteher
Verlorenes, das kommt zurück
Gefundenes, das mehrt das Glück
Dieses und noch vieles mehr
Kommt zuhauf und sehet her.
Siberne-Fisch-Gasse Nummer 8
Geöffnet von Mittag bis Mitternacht
Hier berät euch mit Verstand
Mit kühlem Kopf und ruhiger Hand
Pia Fraus
Großmeisterin der Lettern und Zahlen«
Das Männchen verbeugte sich abermals, setzte seinen Zylinder wieder auf und stieg im nächsten Augenblick in die Karte zurück.
Kaum war es verschwunden, leuchteten die Buchstaben wieder auf.
Alles, was noch zu sehen war, war »
Lies mich!
«. Mira saß mit offenem Mund da. »Was war das?« Miranda zuckte mit den Schultern. »Das war Werbung. Ziemlich gut gemacht allerdings. Äh, hast du dir die Adresse gemerkt?«
Mira schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir ihn wohl noch mal fragen.« Miranda sah auf die Karte, sagte laut »Lies mich!« und blies dann auf das Papier. Nach einer Weile erschien das Männchen erneut. Es sah zu Mira und Miranda und zog für einen kurzen Moment die Stirn in Falten. Dann setzte es seinen Hut ab, verbeugte sich widerwillig und begann das Gedicht noch einmal aufzusagen. Diesmal jedoch leierte es die Verse herunter. Dann nahm das Männchen seinen Hut, setzte ihn wieder auf und verschwand grußlos. »Silberne-Fisch-Gasse Nummer 8«, sagte Miranda.
Mira starrte auf die Karte. Wieder leuchteten ihr die Buchstaben entgegen. »Ich wüsste zu gerne, was passiert, wenn wir ihn noch einmal rufen.«
»Oh nein!«, sagte Miranda, »ich würde das lieber lassen. Meine Großmutter sagt, diese Geistwesen sind unberechenbar.« »Ach komm schon«, drängte Mira. Sie nahm noch einmal die Karte, sagte »Lies mich!« und blies darauf.
Und wirklich, das Männchen erschien ein drittes Mal. Es warf einen ziemlich verärgerten Blick auf Mira, zog seinen Hut, verbeugte sich diesmal aber nicht. Dann sah es Mira sehr gerade in die Augen, während es hastig seinen Text herunterspulte.
»Wunderdinge für Groß und Klein
Magische Geräte grob und fein
Enträtselungen können warten ...«
Das Männchen stockte. »Jetzt habe ich euretwegen einen Texthänger«, sagte es vorwurfsvoll. »Ich wette, ihr habt alles verstanden und wollt mich nur weiter belästigen.« »Na ja ...«, sagte Mira gedehnt.
»Ich habe es satt, mich von Kindern veralbern zu lassen«, unterbrach sie der kleine Mann und starrte Mira böse an. »Es ist immer das Gleiche mit euch.« Vor Ärger veränderte sich seine durchscheinende Haut ins Bläuliche. »Ihr kommt in den Laden und lasst euch ganze Verse vortragen oder Hunderte von Geheimschriften zeigen, nur um dann mit eurem mickrigen Taschengeld ein Anagramm zu kaufen.« Mira schluckte. »Ich wollte eigentlich gar nichts kaufen und ganz sicher kein Anagramm oder was immer das ist.«
»Das ist ja gerade das Schlimme!« Das Männchen atmete tief durch. Seine Nasenspitze war inzwischen ganz dunkelblau geworden.
»Außerdem«, sagte es und betrachtete Mira und Miranda von oben herab. (Soweit das bei seiner Größe überhaupt möglich war.)
»Die Chefin sagt, wer den Spruch beim dritten Mal nicht verstanden hat, der braucht auch nicht zu kommen. Wir sind ein exklusives Geschäft und können auf drittklassige Zauberer als Kunden gerne verzichten.« Es trat einen Schritt zurück, nahm die Karte, rollte sie zusammen und steckte sie unter seinen Arm. Dann verbeugte es sich spöttisch: »Auf Wiedersehen, meine Damen.« Es schnippte mit den langen Fingern seiner rechten Hand und verschwand mitsamt der Karte in einem weiß glühenden Aufleuchten spurlos in der kühlen und windigen Herbstluft. Mira und Miranda starrten sich an. Ein Blatt wehte vom Ahornbaum und verfing sich in Mirandas Haaren.
Mira wollte gerade anfangen zu sprechen, als Miranda den Finger vor den Mund legte. Über den Gehsteig hallte das Klackern von Stiefeln mit hohen Absätzen. Mira und Miranda rückten in den Schatten des Ahornbaums. Doch zu spät! »Jetzt habe ich dich doch erwischt!«, sagte eine hohe, verärgerte Stimme. Mira drehte sich um und zuckte zusammen. Unter der Laterne
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