Mira und der weiße Drache (German Edition)
Durchgang mit alten, geduckten Häusern, die das Sonnenlicht verschluckten.
Auf der rechten Seite floss mit dunklem Gurgeln ein schwarzer Fluss, auf dessen Oberfläche ab und zu ein verwelktes Blatt trieb oder ein bisschen weißer Schaum. »Es sieht so aus«, dachte Mira, »als hätte einer ins Wasser gespuckt.« »Keine Angst, hier ist keiner!« Die struppige Katze sprang von der Mauer und gesellte sich zu ihr.
»Und nun?«, fragte Mira zögerlich.
»Wir schauen uns erst mal das Haus an«, antwortete Miranda. Sie liefen die Gasse entlang, und Mira zählte die Nummern auf den Schildern, bis sie an einem sehr alten, lila gestrichenen Haus die Nummer 8 entdeckte.
Eine Holzbrücke mit bemoosten Dielen führte über das dunkle Wasser zur Eingangstür, an deren Seiten zwei steinerne Fische mit aufgesperrten großen Mäulern aus der Mauer lugten. Mira schauderte. Die riesigen Fischaugen schienen sie ernst und aufmerksam zu beobachten, als sie vorsichtig über die Brücke ging.
Links neben der Tür befand sich ein silberner Klingelknopf und darüber ein schwarzes Schild, auf dem in verschnörkelter Schrift stand:
Pia Fraus – Übersetzerin für alte Sprachen
Mira blickte etwas ratlos zu Miranda, die inzwischen über eine Mauer auf das schräge Satteldach des Nachbarhauses gehüpft war.
»Nicht klingeln!«, sagte Mirandas Stimme in Miras Kopf. »Ich versuche erst mal durch das Dachfenster zu schauen!« Mit einem Satz sprang die Katze auf das gegenüberliegende Dach und landete mit einem lauten Scheppern auf dem Giebel neben der Regenrinne.
In diesem Moment hörte Mira im Inneren des Hauses Schritte, die sich rasch der Haustür näherten. Sie blickte zu Miranda, die sich hinter die Regenrinne duckte, und lief zurück auf die Gasse. Dort versteckte sie sich hinter einer Mülltonne, die im Torbogen des Hauses schräg gegenüber stand.
Kurz darauf öffnete sich die schwere, schwarze Holztür, und eine Frau – nein, dachte Mira, eher ein Mädchen – mit mausbraunen Haaren schaute vorsichtig heraus. Mira drängte sich noch tiefer in die kleine Nische zwischen der Tonne und der Hauswand. Irgendwo hatte sie dieses Mädchen schon einmal gesehen. Es wandte den Blick nach links und rechts, um zu sehen, ob jemand in der Gasse war. In diesem Moment ertönte von der Dachrinne plötzlich ein Rumpeln. Mira hielt den Atem an.
Auch das Mädchen zuckte zusammen, drehte sich zum Haus, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf das Dach.
Jetzt wusste Mira schlagartig, woher sie das Mädchen kannte. Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller. Das Mädchen war Xenia, die auf dem Zauberrat vorgeschlagen hatte, Miranda in einen Bannkreis zu setzen. Was hatte sie nur im Haus der schwarzen Hexe verloren?
Xenia hatte scheinbar nichts auf dem Dach bemerkt. Sie blickte sich kurz noch einmal nach links und rechts um, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Dann verwandelte sie sich in einen Dachs mit schwarz-weiß geringelter Schnauze und grauem Fell, huschte schnell die Gasse hinunter und verschwand in dem lichtlosen Weg, durch den auch Mira und Miranda hierhergelangt waren.
In diesem Moment sprang die Katze mit einem riesigen Satz vom Dach und landete direkt vor Mira. Ihr Schwanz bewegte sich unruhig hin und her. Ihr Fell sträubte sich. »Diese Verräterin!«, hörte Mira Mirandas zornige Stimme in ihrem Kopf. Dann lief die Katze schnell die Gasse hinunter, um den Dachs zu verfolgen. »Wir treffen uns im Blauen Pfau !«, hörte Mira noch Mirandas Stimme, ehe sie in dem engen Weg zwischen den Häusermauern verschwand. Kurz darauf waren nur noch das Rascheln von Laub, ein Quieken, ein Fauchen und das Aufflattern erschrockener Tauben zu hören. Dann – Stille. Mira wagte kaum zu atmen noch sich zu rühren. Sie wartete noch eine Weile, doch keines der beiden Tiere kam zurück.
Wie konnte Miranda sie nur so alleine lassen? Mira hatte weder eine Ahnung, wo sie sich befand, noch wie sie zum Blauen Pfau finden sollte. Vielleicht sollte sie einfach loslaufen und jemanden fragen, dachte sie. Doch gerade als sie aus dem Torbogen treten wollte, sah sie, wie die schwarze Holztür ein zweites Mal geöffnet wurde. Mira duckte sich schnell wieder in ihrem Versteck. Diesmal trat die elegante Frau mit den langen, schwarzen Haaren heraus. Sie hatte eine große, rote Tasche unter den Arm geklemmt und lief ohne sich umzublicken die Gasse hinunter. Mira spähte hinter der Tonne hervor, wartete zwei eilig hämmernde Herzschläge lang und nahm
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