Mira und der weiße Drache (German Edition)
»Sicher!«, beteuerte er, »aber sicher! Solange er sich nicht beschwert und uns nicht weiter auf die Nerven geht. Schlimm wird es immer dann, wenn diese Wesen nicht mehr zufrieden sind mit dem Platz, an den man sie gestellt hat. Schau dir nur an, was mit dem Silbermännchen passiert ist.«
»Dann hätten Sie das Silbermännchen also auch verbrannt, so wie die schwarze Hexe es getan hat?«, fragte Mira und spürte dabei, wie Zorn in ihr hochstieg. Hippolyt wedelte etwas unschlüssig mit seiner Hand. »Sagen wir mal so, ich kann gut verstehen, dass sie verärgert war. Man darf diesen Geistwesen nicht zu viele Freiheiten zugestehen. Sie werden dann schnell hochmütig. Letzten Endes hat das Silbermännchen seine gerechte Strafe bekommen.«
Mira atmete tief durch. In ihrem Magen bildete sich ein kleiner, harter Klumpen. »Dann sind Sie ja nicht besser als die schwarze Hexe«, brachte sie schließlich heraus. Hippolyt stutzte kurz, dann lachte er schallend. »Habe ich das je behauptet, Mira?«
Mira war plötzlich nicht mehr ganz wohl in ihrer Haut. Sie vermied es, Hippolyt anzusehen, der sie wiederum amüsiert betrachtete. Miranda war während des ganzen Gesprächs unruhig auf ihrem Stuhl gesessen und sprang nun auf. Sie lief zum Fenster, schob die schweren Vorhänge beiseite und sah hinaus. Draußen fegten Windböen durch die Stadt. Fensterläden klapperten und Türen quietschten in ihren Angeln
»Ich fliege jetzt zum Zauberrat«, sagte sie plötzlich entschlossen. »Ich erzähle ihnen alles, was ich weiß. Sie sollen zumindest wissen, dass die schwarzen Zauberer das Buch nicht haben!« Mira nickte. »Ich komme mit«, flüsterte sie.
Da lief Hippolyt schnell zum Fenster und zog mit einem energischen Ruck den Vorhang wieder zu. Er sah die beiden Kinder eindringlich an und seine weißen Augenbrauen zitterten leicht. »Ihr geht jetzt nirgendwohin!« Er schob Miranda sanft, aber bestimmt zurück zum Stuhl. »Zumindest nicht, bevor ihr einen schönen heißen Tee getrunken habt!«, erklärte er und lief eilig auf seinen kurzen Beinen in die Küche.
Mira und Miranda wechselten einen Blick. »Wir trinken noch den Tee und dann hauen wir ab!«, flüsterte Miranda.
Mira nickte. Wie spät es wohl sein mochte? Leider gab es in dem Restaurant keine einzige Uhr. Überhaupt sah es in der Nacht ganz anders aus als am Tag, wo sie einen flüchtigen Blick durch das Fenster erhaschen konnte. Die Tische waren frisch eingedeckt und erwarteten den Ansturm des nächsten Tages. Das schwere silberne Besteck blitzte auf den weißen Tischdecken, und auf jedem Tisch standen schwarze Vasen mit je einer einzigen weißen Lilie. Der ganze Raum war in Schwarz-Weiß gehalten. So fiel das bunte Ölgemälde mit dem blauen Pfau besonders auf und beherrschte das ganze Zimmer.
Das war Hippolyt, dachte Mira. Der Pfau war sicher sein Wunschtier. Was er wohl als Geburtstier sein mochte? Sicher etwas ganz Gewöhnliches. Ein Hamster vielleicht? Sie musste grinsen und trat näher an das Bild heran. Im Licht des Kronleuchters konnte sie jetzt auch die Landschaft genauer betrachten, die mit feinen Pinselstrichen auf die Leinwand gemalt war. Sie bestand aus vielen Hügeln, und direkt hinter dem Pfau konnte man einen zierlichen indischen Tempel mit schmalen Türchen und verzierten Fenstern sehen, dessen Pforten sich dem Pfau zu öffnen schienen.
Mira dachte angestrengt nach. Wo nur hatte sie diesen Tempel schon einmal gesehen? In diesem Moment kam Hippolyt zurück und stellte kleine goldene Tassen auf das Tischtuch. »Ein schönes Bild, nicht wahr?« Er lächelte verträumt und fuhr mit seiner Hand zärtlich über das Gemälde. »Ich finde mich wirklich gut getroffen. Und ich liebe einfach diesen Hintergrund.«
Mira starrte auf die weißen Linien, die den hübschen indischen Tempel ergaben, und überlegte. Gedankenfetzen zogen durch ihr Gehirn. Der Tempel! Die geöffneten Pforten! Und Hippolyts türkisblaue Augen! Plötzlich durchfuhr es sie wie ein Blitz.
»Was ist denn mit dir, Mira?«, fragte Hippolyt freundlich und blickte sie neugierig an.
Mira sperrte den Mund auf und bekam ihn nicht wieder zu. »Kantapper!«, sagte sie leise, während sie sich an einer Stuhllehne festhalten musste. »Sie sind Kantapper, habe ich recht?«
21. Kapitel
in dem Mira lernt, wie man am besten etwas verbirgt
»Kantapper? Der Kater? Du meinst Frau Fingerhuts Haustier?«, rief Miranda und starrte Hippolyt an, der nun mit dem Rücken zu den Kindern stand und aus dem Fenster
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