Mira und der weiße Drache (German Edition)
Tiere vom Dachgiebel und wurden von der Dunkelheit verschluckt.
Mira schlug matt mit den Flügeln. Ein erbärmliches Krächzen kam aus ihrer Kehle. »Miranda!«, schrie sie, »Miranda!« Sie flatterte eine Weile über dem Dach herum und starrte immer wieder verzweifelt nach unten. Doch dort herrschte eine gähnende, dunkle Leere und Stille. Nur in der Ferne hörte Mira ein Rascheln und trippelnde Schritte. Ein Dachs kletterte an einer Regenrinne hoch und verschwand über den Dächern in Richtung Burg.
Mit letzter Kraft flog Mira zum Kirchturm und fand dort Unterschlupf über der großen Uhr. Der abnehmende Mond stand gespenstisch bleich am Himmel und die Lichter unter ihr leuchteten feindlich herauf.
Später konnte Mira nicht sagen, wie lange sie über der Kirchturmuhr gesessen hatte. Sie konnte die Glockenschläge spüren, bei deren Dröhnen ihr kleiner Vogelkörper erzitterte. Unten rauschte der Lärm der Stadt. Oben hörte sie ab und zu das Schnattern einer Gans, die über ihr flog, oder den Schrei einer Eule. Der Sperber kam nicht zurück. Mira steckte erschöpft ihren Kopf ins Gefieder und dachte an nichts.
Sie blickte erst auf, als sie schweres Schnaufen und Flügelschlagen neben sich hörte. Zu ihrem großen Erstaunen hatte sich ein Pfau neben ihr niedergelassen. Das Mondlicht ließ sein wunderbares Gefieder in einem geheimnisvollen Blautürkis schillern. Er rüttelte etwas umständlich mit den Federn und sagte schließlich atemlos: »Mira! Wie gut, dass ich dich gefunden habe!« Mira wandte den Kopf und sah den Pfau überrascht an. »Mira, erkennst du mich denn nicht? Ich bin es, Hippolyt!«, sagte der Pfau und seiner Stimme war immer noch die Anstrengung des Fluges anzuhören. Wäre sie ein Mensch gewesen, so wären Mira nun vor Erleichterung sicher die Tränen gekommen. So sträubte sich nur ihr Gefieder und sie brachte ein Piepsen hervor. »Hippolyt«, rief sie. »Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Wir müssen Miranda suchen. Sie hat mit einem Sperber gekämpft und ...« Sie konnte nicht weitersprechen. »Jetzt bringe ich dich erst mal in Sicherheit, dann sehen wir weiter«, sagte Hippolyt leise. »Am besten, du folgst mir unauffällig!«
»Unauffällig?, fragte Mira und sah den schillernden Pfau irritiert an.
»Ja, ich weiß«, sagte Hippolyt und schüttelte sein Gefieder. »Deshalb bleib du erst mal hier sitzen und schau mir zu! Ich werde zu einem Kamin fliegen und dort meine Federn spreizen. Du merkst dir die Stelle, wartest eine Weile, folgst mir und lässt dich dann in den Kamin hineinfallen. Alles klar?«
»Ähm, ja!«, sagte Mira. »Bis gleich!«, erwiderte der Pfau und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Und wünsche mir Glück!«
Zunächst wusste Mira nicht, warum sie dem Pfau Glück wünschen sollte. Doch als er sich todesmutig von der Kirchturmuhr stürzte, dann kurz wie ein Stein in der Luft hing und mit ein paar schwerfälligen Flügelschlägen versuchte, sich weiter zu bewegen, war ihr klar, was er meinte. Sie blickte ihm nach, wie er schnaufend und angestrengt mit seinen prächtigen Flügeln schlagend über die Dächer trudelte. Schließlich ließ er sich auf einem Schornstein einige Häuser entfernt nieder und schlug ein Rad. Seine abgespreizten Federn blitzten und funkelten im bleichen Mondlicht. Dann klappte er sie wieder zusammen, flog vom Dach und verschwand zwischen den Häusern.
Mira wartete wie verabredet eine Weile. Über ihr dröhnten noch einmal die Kirchturmglocken, als sie endlich mit zitternden Federn losflog. Sie überquerte die Hausdächer und landete auf demselben Schornstein, auf dem Hippolyt sein Rad geschlagen hatte. Dort krallte sie sich an der Umrandung fest und starrte nach unten in ein dunkles Loch. »Wünsche mir Glück!«, dachte sie noch, als sie sich in die schwarze Leere fallen ließ.
20. Kapitel
in dem Mira die Teile eines Puzzles zusammensetzt
Eine kurze Zeit war es schwarz und dunkel um Mira. Ihre Federn berührten im Fallen die bröckeligen Mauern des Schachts, und Ascheflocken wirbelten um sie herum. Dann knackte und knirschte es auf einmal gewaltig, und sie plumpste zwischen abgebrannte Holzscheite in einen großen Kamin, aus dem eine riesige graue Wolke hervorstob, die sie ganz einhüllte. Nachdem sich die Staubwolke wieder gelegt hatte, plusterte Mira ihr Gefieder auf und befreite vorsichtig ihre Flügel von Aschebröckchen und verkohlten Holzstückchen.
Der Raum, in dem sie gelandet war, war dunkel, die Vorhänge zugezogen und nur das
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