Mira und der weiße Drache (German Edition)
blickte.
Eine Weile war es still. Nur im Kaminschacht heulte der Wind, und durch einen kleinen Spalt in den schweren Vorhängen konnte Mira sehen, wie draußen die Straßenlaternen an den Drähten hin und her schaukelten. Hippolyt schob den Vorhang beiseite und drehte sich langsam um. »Du hast es also erraten!«, sagte er und sah Mira anerkennend an. »Ich wusste ja, dass du sehr schlau bist.« »Es war der Tempel«, erklärte Mira zögernd. »Frau Fingerhut hat mir alle Bilder von Kantapper gezeigt. Auch das mit dem Tempel im Hintergrund.«
»Ah«, sagte Hippolyt und lächelte geschmeichelt. »Das hast du gesehen? Es ist eines meiner besten Fotos.«
»Ich habe mir ganze drei Alben mit Katerbildern ansehen müssen«, sagte Mira knapp. »Das hat sicher Spaß gemacht«, stellte Hippolyt ohne jede Ironie fest.
»Mhmm«, erwiderte Mira.
Hippolyt seufzte. »Ich frage mich allerdings, warum du dann ausgerechnet das Bild mit mir auf dem Zaun ausgewählt hast.« Er sah Mira kurz beleidigt an. »Es ist so ... unvorteilhaft. Schließlich hing es an jeder Straßenecke!«
»Ich wollte nur, dass man Sie auch wiedererkennt«, entgegnete Mira.
»So«, murmelte Hippolyt säuerlich. »Natürlich! Es war immerhin sehr nett von dir, Erna Fingerhut bei der Suche zu helfen.«
»Sie war so verzweifelt und traurig, als Sie nicht wiederkamen«, erklärte Mira.
Hippolyt atmete tief durch, dann lächelte er.
»Leider erforderten es dann die Umstände, dass ich dort nicht mehr bleiben konnte.« Mira hielt den Atem an. Da war schon wieder dieses seltsame Flackern in Hippolyts Augen.
»Umstände?«, wiederholte Miranda verständnislos. »Was für Umstände?«
Hippolyt lachte. »Hast du dich nie gefragt, warum ich nicht mehr beim Zauberrat aufgetaucht bin? Wieso ich mit diesen armen, aber ehrbaren weißen Zauberern nichts mehr zu tun haben wollte?« Miranda schüttelte den Kopf.
Hippolyt lächelte immer noch, aber es kostete ihn sichtlich einige Mühe.
»Man hat mich ausgeschlossen.« Er seufzte. »Ich habe mich wohl zu lange mit den schwarzen Zauberern abgegeben. Und ich bin mit ihnen reich geworden. Sehr reich! Schaut euch um! Sie sind gerne bei mir. Sie verachten mich zwar, aber sie sind gerne hier. Für sie bin ich Hippolyt, der kleine, dicke, kurzbeinige Koch. Ein dummer weißer Zauberer, der sich in ihre Reihen verirrt hat. Immer vergnügt. Immer lustig.« Seine Mundwinkel zogen sich noch immer nach oben, aber seine Augen schauten traurig. »Und so ging es die ganze Zeit: ›Hippolyt, hierher! Hippolyt, dorthin! Hippolyt, verneige dich! Hippolyt, mach einen Scherz! Hippolyt, lauf noch mal in die Küche! Hippolyt, tanz uns was vor!‹« Er machte eine kleine Pause und verneigte sich spielerisch. »Hippolyt, immer zu Diensten! Und sie waren immer zufrieden. Oh ja!« Hippolyt sah die Kinder an und wischte sich über die zerfurchte Stirn, auf der sich Schweißperlen gebildet hatten.
»Wisst ihr, was mir daran gefallen hat? Die ganze Zeit wussten sie nicht, was ich über sie dachte. Ich war zu allen freundlich, aber keiner wusste, was ich wirklich von ihm dachte. Für wie bemitleidenswert, kleinlich und dumm ich sie alle hielt. Wie lächerlich mir ihr Machtgetue vorkam und ihr wichtiges Geschwätz.« Hippolyt atmete tief durch. Er sah jetzt sehr einsam aus, dachte Mira.
»Aber ich wusste: Alle blöden Witze, jeden dummen Scherz, jede Verbeugung werden sie mir zurückzahlen! Doppelt und dreifach! Also verlangte ich für jedes Essen immer mehr Geld. Und ich wurde tatsächlich immer reicher.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber sie wurden nicht ärmer. Sie zahlten für die lächerlichsten Gerichte jeden Preis, ohne mit der Wimper zu zucken! Da wusste ich, dass ich mich mit Geld nicht rächen konnte. Denn das würde ihnen nicht wehtun. Nein! Es musste etwas anderes geben. Sie sollten sehen, wer dieser Hippolyt wirklich ist!
Angst sollten sie vor mir haben! Zittern sollten sie! Sich verbeugen, wenn ich durch die Tür komme! Nur wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte.«
Hippolyt holte tief Luft. Dann sah er Mira an, die vor ihm saß.
»Und dann kamst du.«
Mira wagte kaum zu atmen, als Hippolyt fortfuhr. »Was für ein Glücksfall! Besser hätte ich es gar nicht treffen können.« Er hatte begonnen, in seinem Restaurant herumzulaufen, hielt jetzt aber inne. »Seit Monaten schon gab es Gerüchte unter den schwarzen Zauberern, es war eine gewisse Aufregung zu spüren. So wie ich es gewohnt war, hörte ich mir alle ihre
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