Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
Wand neben ihr war schräg. Wenigstens fiel ein wenig Mondlicht durch das kleine gekippte Dachfenster, sodass Mira sich umsehen konnte. Neben ihr befand sich ein Regal mit langhalsigen Flaschen. Die bunten, sirupähnlichen Flüssigkeiten darin leuchteten in der Dunkelheit.
Im Fach darunter lagerten große Einweckgläser, in denen kleine spinnenartige Tiere ihre winzigen Tentakel gegen die Glaswände drückten. Und neben Mira stand ein Glasgefäß, in dem Quallen in einer milchigen Flüssigkeit schwebten.
Das alles verwunderte Mira nicht besonders. Im Keller des Blauen Pfaus hatte sie ähnliche Köstlichkeiten schon gesehen.
Sie musste also in der Vorratskammer einer Zaubererwohnung gelandet sein. War hier auch das Zimmer mit dem runden Fenster, das sie in der Kugel erblickt hatte?
Sie sah nach unten.
Die Tür der Kammer war mit einem Schnappschloss verriegelt. Das zog Mira zurück und spähte durch einen Spalt in eine kleine Küche. Hier stapelten sich Töpfe und schmutzige Teller neben der Spüle. Die Tür zu einem kleinen Balkon stand offen. Draußen spielte der warme Wind mit einem klimpernden Glöckchen, das oberhalb der üppig bepflanzten Blumenkästen hing.
Mira durchquerte die Küche und kam in einen Flur, in dem große, in wuchtige Holzrahmen gefasste Ölporträts hingen. Die Menschen auf den Gemälden sahen streng und würdevoll drein, und Mira fühlte sich von zahlreichen Augen beobachtet, als sie den langen, finsteren Korridor entlangging. Alle Türen waren verschlossen. Nur eine einzige am Ende des Gangs stand offen. Von dort warf der Schein einer Lampe seinen Lichtkegel auf den Dielenboden.
Mira ging langsam darauf zu. Als sie an der Schwelle stand, blieb ihr beinahe das Herz stehen.
Vor ihr lag das Zimmer, das sie in der Zeitsichtkugel gesehen hatte.
Hier war das Fenster. Kreisrund wie das Bullauge eines Schiffes, mit zwei Sprossen in Kreuzform, die die Scheibe in gleich große Viertel teilten. Das Holz des Rahmens leuchtete hell vor dem schwarzen Nachthimmel.
Eine kleine Stehlampe neben dem Bett verbreitete den warmen Lichtschein, den Mira vom Gang aus gesehen hatte.
Auf dem Holzboden waren Kleidungsstücke verstreut und in den Regalen an den blau getünchten Wänden wechselten sich Kuscheltiere mit Spielzeugautos und Puppen ab. Daneben hingen Bilder und gerahmte Fotografien. Neugierig trat Mira näher.
Eine Fotografie zeigte ein kleines Mädchen mit langen roten Haaren in einem hübschen flaschengrünen Kleid. Es lächelte und zwischen den Vorderzähnen konnte Mira eine ihr wohlbekannte Lücke entdecken.
Das Mädchen war Miranda. Eine viel jüngere, kleinere Miranda, deren Augen allerdings genauso wach und rebellisch wie immer blitzten.
Neben dem Foto war eine Kinderzeichnung mit Reißzwecken an die Wand gepinnt. Etwas, das wie eine rote Katze aussah, kletterte auf einen Baum. Darüber, in einem Himmel mit spinnenhafter Sonne, kreiste ein großer Vogel, der eine Amsel zu verfolgen schien.
Dann blieb Miras Blick wie gebannt an dem großen Bild in der Mitte hängen.
Ein pausbäckiges Baby mit kurzen roten Haaren, die sich wie ein Feuerkranz um den runden Kopf ringelten, war darauf abgebildet. Das Baby war auf dem Arm einer schönen, ebenfalls rothaarigen Frau, neben der ein Mann stand, der Mira vertraut vorkam. Er hatte eine große Hakennase und einen stechenden Blick. Mira klappte der Mund auf vor Staunen.
Sie kannte den Mann! Nur hier auf dem Foto sah er viel jünger aus!
Mira schnappte nach Luft.
Der Ratsvorsitzende vom Zauberrat!
Mirandas Vater.
Miras Gedanken wirbelten durcheinander. Dies hier mussteMirandas Zimmer sein, ihr Kinderzimmer, in dem sie aufgewachsen war.
Doch all das passte gar nicht zu der wilden und verwegenen Miranda, die sie kannte. Zu der Miranda, die scheinbar aus dem Nichts kam, bei ihrer Großmutter aufwuchs, Spruchbewahrerin war und zu den weißen Zauberern gehörte. Nein. Die Miranda in diesem Zimmer hier war das behütete Kind schwarzer Zauberer. Und schlimmer.
Mirandas Eltern waren nicht nur gewöhnliche schwarze Zauberer, sondern ihr Vater saß sogar dem geheimen Rat der schwarzen Künste vor. Was, wenn sie wussten, dass Miranda die Kugeln gestohlen hatte?
Als Mira das überlegte, bemerkte sie, wie ein großer, dunkler Schatten am Fenster vorbeiwischte.
Sie ging hinüber und sah, wie ein Rabe mit einer einzelnen schimmernden weißen Feder auf dem Giebel des Hauses gegenüber landete.
Mira fühlte sich auf einmal wie in einem Traum.
All das, was
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